Die Kathedrale des Verschwendeten Fleisches: Kapitel 3

Kapitel 3

Eine kleine Ewigkeit verging, in der sie schweigend durch die Wüste wanderten. Wortlos setzten sie einen Fuß hinter den anderen, bis sie ihre Zehen nicht mehr spüren konnten. Die Sonne brannte Derek auf den Schädel; er spürte, wie ihm die Hitze in den Kopf kroch und seine Gedanken erwürgte.

„Guck mal da.“ Liam flüsterte fast. Er zeigte nach vorne, vorbei an den Köpfen, zu einem blassen schwarzen Fleck am Horizont. Derek erkannte kaum mehr als ein Flimmern in der Ödnis. Je näher sie kamen, desto größer wurde der Schatten. Dünne Linien wurden erkennbar; Konturen zeichneten sich ab, Umrisse eines fernen Bauwerks: Ein mächtiger Giebel, flankiert von zwei Türmen.

„Was ist das?“ fragte Derek. Ob er die Antwort ertragen konnte, wusste er nicht. Liam gab ein pfeifendes Grunzen von sich.

„Ich weiß nicht recht,“ sagte er, „sieht aus wie eine Kathedrale.“

Die gewaltigen Ausmaße machten Derek schwindelig, wenn er hoch zur Spitze des großen Giebels blickte. Mit ihren beiden spindeldürren Türmen ragte die Kathedrale über ihren Köpfen auf wie ein böses Omen. Auf dem schwarzen Stein wucherte dürrer Efeu. Merkwürdige Ornamente, die wie Fleischerhaken aussahen, verunstalteten die Fassade. Den großen Torbogen zierten aus Stein gehauene Statuen, die Heilige zeigten, die Derek nicht erkannte. Statt sich der Schlange zuzuwenden, die unter ihnen durch das Tor verschwand, wandten sie sich in Abneigung von ihr weg.

Ein gusseisernes Gitter, so hoch wie zwei Häuser, versperrte anstelle eines Tores den Weg ins Innere. Wachen standen davor. Trotz der brennenden Sonne trugen sie schwarze Ledermäntel und dicke Stiefel. Die Hitze schienen sie nicht zu bemerken. Sie waren bewaffnet mit altertümlichen Karabinern. Unter grauen Stahlhelmen trugen sie Gasmasken, mit langen Schläuchen, die unter den Mänteln verschwanden. Derek konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Ihr Schweigen machte ihn nervös; ohne es zu merken kratzte er sich an der Stelle, wo die Zahlen in seinen Arm tätowiert waren.

Der Zug war vor dem Gitter zum Stillstand gekommen. Wieder warteten sie auf etwas, ohne zu wissen worauf. Die Wachen standen einfach nur da, bewegten sich kaum und sprachen kein Wort. Neben dem Tor, hoch über ihren Köpfen, hing eine monströse Tafel, wie auf einem Flugplatz, oder einem Bahnsteig. Derek versuchte ihren Zweck zu erraten, als plötzlich meterhohe Ziffern darüber flatterten. Mit ohrenbetäubendem Lärm klapperten die Zahlen über die Tafel, bis eine Liste von etwa hundert Nummern entstand. 5432 und 66421 standen irgendwo in der Mitte. Dann setzte sich das Gitter in Bewegung. Metall rieb an Metall, ein tiefes, langes Kreischen, wie ein sterbender Riese, als sich die Flügel langsam in die Dunkelheit der Kathedrale öffneten. Die Wachen nahmen die Gewehre in Anschlag.

Einen nach dem anderen kontrollierten sie die Gefangenen aus dem Zug. Als es soweit war griff die Wache nach Dereks Arm, umklammerte ihn mit eisernem Griff und las die eintätowierte Nummer. Sie sagte kein Wort, machte kein Geräusch. Hinter dem Visier der Gasmaske fand Derek keine Augen, kein Gesicht, sondern nur schwarzes Nichts. Die Wache schubste ihn weiter und Liam war an der Reihe. Sie rollten mit dem Zug und als alle Nummern der Liste durch waren, schloss sich das Gitter wieder unter lautem Getöse hinter ihnen.

Derek konnte nichts sehen. Draußen blendete die Sonne, doch hier drinnen herrschte seichtes Dunkel. Er brauchte etwas Zeit, um sich an die Schatten zu gewöhnen. Als er wieder sehen konnte, starrte er in Ehrfurcht nach oben. Das Innere der Kathedrale erwies sich als viel gewaltiger, als man von außen erahnen konnte. Die Decke hing so hoch, dass sie in der Dunkelheit verschwand. Endlose graue Säulen ragten über ihren Köpfen empor. Der Geruch von altem Stein hing schwer in der Luft, auf dem kalten Boden fühlte Derek sich, als stünde er auf einem gefrorenen Grab.

„Wo ist das Kreuz?“ Derek blickte plötzlich ängstlich um sich. „Wo ist der Altar? Wo sind die Beichtstühle? Die Bänke?“ Er suchte nach dem Inventar, doch es gab keins. Alles fehlte. In der Kathedrale herrschte gähnende Leere.

„Das ist keine Kirche“, keuchte Liam von hinten. „Wir sind hier in einer Fabrik.“ Seine Stimme zitterte. „Einem Vernichtungslager.“

Und da sah Derek die Maschine. Groß, rostig und grausam wartete sie in der Mitte der Halle. Ein rechteckiger Kasten, unförmig und zweckmäßig, zusammengehalten von faustgroßen Nieten. Aus den Seiten ragten Rohre, die über einem Abfluss im Boden endeten; mehrere Ventile waren an der unteren Hälfte angebracht, doch wozu sie gut waren, dass konnte Derek nur raten. Ein großer Trichter ragte oben aus der Konstruktion. Davor stand eine Stahltreppe, die zum Trichter hoch führte und in einer kleinen Plattform endete, die wie ein Sprungturm über den Abgrund ragte. Eine merkwürdige Gestalt wartete an ihrem Rand – ein Priester.

Bei dem Anblick der Maschine fing der alte Mann an der Spitze der Reihe bitterlich an zu weinen. Zitternd sank er auf die Knie, stammelte Entschuldigungen, ohne zu wissen wofür. Zwei Wachen packten ihn bei den Armen und schleiften ihn über den Boden zum Absatz der Treppe. Ohne Mitleid warfen sie ihn auf die Stufen. Er flehte um Gnade, doch die Wachen reagierten nicht. Als er sich nicht regte, legten sie die Gewehre an. Zitternd richtete der Alte sich wieder auf, zog sich mit den dünnen Armen am Geländer hoch, und setzte den Fuß auf die erste Stufe. Schritt für Schritt erklomm er die Treppe. Oben erwartete ihn der Priester. Sie wechselten ein paar Worte. Der alte Mann schaute furchtsam nach unten in den Trichter und nickte geistesabwesend. Er hob noch einmal den Kopf, blickte hinter sich, runter zur Schlange – und dann sprang er.

Das Geräusch, dass er machte, klang wie aus einem Sägewerk. Derek hielt sich die Ohren zu. Weißer Dampf schoss aus den Ventilen, pfiff in schrillen Tönen. Der Kasten rappelte wie ein wütender Dämon, während die Sägen in Inneren den Alten verarbeiteten. Nach einer Minute endete der Spuk. Aus den Rohren an der Seite tropfte eine zähe, rotbraune Masse in den Abfluss. Stille legte sich über die Halle; niemand gab den geringsten Laut. Der nächste trat vor und bestieg die Stufen.


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