Der Zorn der Ungerechten

oder Zwischen sozialer und hasserfüllter Bewegung scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein.

Der Zorn der Ungerechten

Auch so eine Bewegung gegen
"die da oben".

Beim Mittagessen saß ich mit Karsten und Heinz zusammen. Üblicher Kantinenfraß. Geschnetzeltes oder etwas in der Art. Dazu dieses Gerede zweier nicht mehr völlig frischer Typen. Irgendwie waren beide angepisst. Unzufrieden. Wetterten gegen die Ungerechtigkeit der Welt, gegen "die da oben", auch wenn sie es so nicht sagten und landeten dann bei "denen da unten", was sie wiederum ganz deutlich machten. Heinz meinte, er könnte auch gleich Hartz IV anmelden, dann hätte er mehr Geld und müsste nicht mal dafür arbeiten. Wenn man sieht, wie die leben, dann ist man doch der Dumme, wenn man arbeitet.
Jürgen kennt ihr ja schon. Andere Kollegen sind auf andere Weise bedenklich. Wie man nur ein halbes Jahrhundert alt werden kann, ohne auch nur einen Ansatz von Ahnung zu haben, dachte ich. Erwachsene Männer, die untertäniges Gedankengut pflegen, brodelte es in mir. Reichtum durch Sozialhilfe! Ha! Fast lachhaft, wenn es nicht so traurig wäre. Sollte man in dem Alter nicht merken, wenn man Unsinn absondert? Ich gab mich nach Außen dennoch etwas diplomatischer. Sagte nur: Unsinn! Und schob nach: Wer arbeitet hat immer mehr.

Ratlose Blicke. So dämlich muss jene Sau geguckt haben, die eben noch als Geschnetzeltes auf meinem Mittagsteller lag, als der Schlachter vor sie trat.  Also setzte ich mein rhetorisches Bolzenschussgerät an und erzählte etwas von Freibeträgen, die man behalten dürfe, wenn man arbeite. Hundert Euro würden nicht angerechnet und mit weiteren zehn oder zwanzig Prozent (je nach Höhe des Nettoeinkommens) geschähe dasselbe. Karsten sah mich an und fragte: Wie, arbeiten und Hartz IV kriegen? Geht doch gar nicht! Hat der Kerl tatsächlich noch nie was von Aufstockern gehört. Aber eine Meinung hatte er obgleich fehlender Recherche natürlich trotzdem.
Eigentlich tragisch. So richtig dumm ist er so wenig wie Heinz. Beides sind Männer, die ihr Leben lang mehr oder weniger hart geschuftet haben. Sie wissen wie es zugeht in der Welt. Sie wissen, dass durch Arbeit noch keiner Millionär geworden ist. Wenigstens Karsten verabscheut reiche Snobs, die keinen Finger krumm machen und absahnen. Grundsätzlich sind das umgängliche Leute, mit denen man es eigentlich aushalten kann. Solange sie belanglos bleiben und vom Fliesenlegen oder Urlaub erzählen. Was ich eigentlich meine: Sie sind nicht mehr Hölle als alle anderen, die ich so kenne.
Der belgische Publizist und Politiker Peter Mertens schließt in seinem Buch Wie können sie es wagen? das Kapitel über das Niedriglohnland auf deutschen Boden mit einem Bericht über eine zufällige Begegnung ab. An der deutschen Autobahn unterhielt er sich mit einem Lastwagenfahrer, der behauptete, dass die Menschen zwischen Flensburg und Garmisch mit den Zähnen knirschten. Der Moment wird kommen, so seine prophetische Einschätzung, da alle genug haben. Die realitätsferne und korrupte Politik hat Frust aufgestaut. Überall brodele es schon. "Wenn es an die Oberfläche kommt, ja, dann wird es eine riesige Explosion sein. Wir müssen vor allem dafür sorgen, dass diese Explosion auch genügend Wirkung zeigen wird."
Früher oder später knallt es, sagte der Lastwagenfahrer sinngemäß zu Mertens. Ich aber nehme an: Später! Dieser medienprofessionelle Kapitalismus hat es ganz famos geschafft, dass zwar jeder Idiot sich Öffentlichkeit herstellen kann. Selbst die Demonstranten und Kritiker dieses ungerechten Molochs der Korruption können das ganz ungeniert. Aber da es so viele Öffentlichkeiten gibt, ist nichts so wirklich anziehend und massenbewegend, alles nur ein Splitter einer Gesamtöffentlichkeit und daher auch irgendwie nicht mehr ganz authentisch. Man zappt sich von Kanal zu Kanal und reibt sich reizüberflutet die roten Punkte, die mal Augen waren.
Wenn ich mir jetzt Leute wie Heinz und Karsten ansehe, dann weiß ich ganz genau, dass sie diese ganze systematische Scheiße erkennen und auch für einen reinigenden Knall wären. Nur sehe ich am Beispiel mit den Hartz IV-Empfängern, zu denen sie so unkritisch in Konkurrenz treten, dass sie die undialektische Fähigkeit besitzen, sich immer genau gegen die zu richten, die für den Niedergang nicht verantwortlich sind. Anders gesagt: Diese riesige Explosion wäre ja schön, wenn man nicht Angst haben müsste, dass es mal wieder allerlei andere trifft. Ausländer in Deutschland, faule Südeuropäer oder eben Erwerbslose und Leute, die weniger Herkunftsglück und Vitageschick hatten.
Im Zuge der Bundestagswahl war es Karsten, der mit der AfD liebäugelte. Er hat da mal drei Sätze dazu gesagt. Überrascht hat es mich nicht. Diese AfD ist auch so ein fehlerhaft angebrachtes Ventil. Sie tuckert nach diesem Prinzip von Prozentpunkt zu Prozentpunkt, gibt sich rebellisch und volksnah, macht sich zum Sachwalter des großen Knalls und marginalisiert dabei gesellschaftliche Gruppen, die nicht das Problem sind, sondern das Produkt des Problems. Die AfD konkretisiert das neoliberale Gesellschaftskonzept nicht als das was es ist, nämlich ein Generalangriff von Oben nach Unten, sondern baut irgendwelche anderen Fronten auf, die "die da oben" unbehelligt lassen - und als Krönung werben sie mit neoliberalen Rezepturen, die alles verbessern sollen.
Ich schenke es mir indes, einen der beiden als notorischen Nörgler an allem Ausländischen zu outen. Ich sage nur, dass einer von beiden so tickt. Die Ausländer sind seiner Meinung nach nämlich im wesentlichen dafür verantwortlich, dass es Deutschland so schlecht gehe. In seiner Welt ist nicht der Kapitalismus überall auf der Erde für diese Entwicklung haftbar zu machen. Nein, Deutschland ist Opfer und Ausländer Täter. Weil die hier seien, reiche es nicht mehr für alle. Sagte er neulich mal so nebenbei. Ich dachte sogleich an Carl Amery. Der schrieb mal, dass diese Floskel, wonach es nicht mehr für alle reiche, eine von drei Punkten der so genannten Hitlerformel sei. Doch Amery hat sicher keiner von beiden gelesen.
Der spanische Soziologe Castells sagte in einem Interview, dass sich Europa "inmitten eines Prozesses sozialer Unruhen [befindet], der in den kommenden Jahren eine Radikalisierung erfahren wird. Wenn sich in diesem Prozess keine hoffnungsvollen Bewegungen entwickeln, dann werden stattdessen hasserfüllte Bewegungen erwachsen." Er sieht die Krisenzeit daher als eine "Konfrontation zwischen einer Kultur der Hoffnung und einer Kultur der zerstörerischen Nostalgie".
Beim Geschnetzelten wurde mir diese Gratwanderung bewusst. Die Leute merken doch, dass etwas falsch läuft. Sie merken es ja an sich selbst. Sie sehen ihre Kommunen, die immer weniger leisten können und sie haben in ihrem Umfeld genug Leute, die am Arbeitsmarkt aufgerieben werden. Phasenweise schimmert sogar durch, dass sie die 0,1 Prozent dafür verantwortlich sehen. Sie wollen eine Reichensteuer und befürworten eine Finanztransaktionssteuer. Wenn aber die Wut unerträglich wird, dann prügeln sie (in ihrer Hilflosigkeit?) verbal auf Arbeitslose oder Ausländer ein. Zwischen sozialer und hasserfüllter Bewegung scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein.
Heinz und Karsten sind keine Schlägertypen, eine Bewegung des Hasses würden sie nicht tatkräftig unterstützen. Aber wahrscheinlich auch nicht weiter verurteilen. Sie wären untätig und stoisch. Und in dieser zurückhaltenden Art der geistigen Komplizenschaft wären sie das Substrat einer solchen Bewegung. Bevor sich die frustrierte Masse in Bewegung setzt, um sich Sündenböcke zu suchen, ist es mir lieber, sie bewegt sich nicht. Das ist keine Lösung, ich weiß das sehr genau. Aber es muss doch bessere Wege geben, um sich des Neoliberalismus' zu entledigen. Und falls es die nicht gibt: Ich habe die Schnauze voll mich dauernd zwischen Pest und Cholera entscheiden zu müssen.
Heinz löffelte schon seinen Milchreis, als ich meine Erklärungen zum Aufstocken von arbeitenden Hartz IV-Beziehern beendet hatte. Weil wir gerade von Hartz sprechen, sagte Karsten plötzlich zu Heinz, ich bin am Wochenende dort, bei meiner Schwester. Wo?, fragte ich. Im Jobcenter? Er: Nee, im Harz. Gut, dachte ich mir, die sind ja so hartnäckig beim Thema, die werden wohl kaum nachhaltig am Zorn der Ungerechten festhalten. Irgendwas aus ihrem Privatleben kommt ihnen immer dazwischen. Solange, bis es von der Auswirkungen des Systems eingeschränkt wird. Und dann? Macht mir das Hoffnung oder bereitet es mir Sorgen?
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