Der Zorn der Ägypter - Hintergründe, Akteure und Aussichten

von Simon Argus

Eine weitere Vorlesung zum Thema Revolution in Ägypten: Diesmal schildert Dr. Al-Hamarneh vom geographischen Institut in Mainz die Lage. Sein Vortrag ist beeindruckend, immerhin war er in den ersten Stunden auf dem Tahrir-Platz dabei und ist mit einigen Akteuren des Protests eng vernetzt. Es geht um die Hintergründe, die Akteure und die möglichen Aussichten des Aufstandes, der seit dem 25. Januar das Land am Nil erschüttert. 
An jenem Nachmittag besprachen sich in einem Hotel unweit des Tahrir-Platzes Mitarbeiter verschiedener Menschenrechtsorganisationen. Als einer der Herren aufstand, ans Fenster ging und sagte: "Wir reden hier über Zivilgesellschaft. Schauen Sie da draußen - da findet sie gerade statt."

Der Zorn der Ägypter - Hintergründe, Akteure und Aussichten

Ein Demonstrant liest die Zeitung und "bewacht" einen Panzer. Quelle: guardian.co.uk

Dr. Al Hamarneh, der bei jenem Treffen dabei war, nennt das Regime in Kairo eine Diktatur. Das ist ein hartes Wort, angesichts der Tatsache, dass der Westen Jahrzehnte lang eng an seiner Seite stand. Diktaturen sind auch die Regime in Weißrussland und Nordkorea - in Ägypten redete man bisher immer von einem "autoritären Regime". Der Unterschied aber sei in den letzten Jahren seit dem 11. September immer mehr verschwunden. Im Rahmen des Kampfes gegen den Terror haben sich die arabischen Regime mehr und mehr einer Diktatur angenähert. Haben ihre bereits harten Gesetze weiter verschärft - jegliche Opposition als islamistisch eingestuft und dadurch ihre eigene Macht gefestigt. Ein Fall des Regimes wurde mit dem Ende der säkularen Ordnung gleichgestellt - mit weltweiten Folgen. Sichtbar wurde diese Politik am Umgang mit Regimegegnern, die sich Folter und harten Gefängnisstrafen ausgesetzt sehen und an dem Terror der vom Staat ausgeht: So ist der ehemalige Innenminister Ägyptens inzwischen der Verwicklung in den tödlichen Anschlag gegen Kopten in Alexandria vor wenigen Monaten verdächtigt. 
Ein zweiter Faktor, der die arabischen, vom Westen gestützten Regime erhärten ließ, ist die neoliberale Globalisierung, von der in Ägypten allein die Führungsclique profitiert. So wird das Vermögen der 4-köpfigen Mubarak Familie (Vater, Mutter, zwei Söhne) auf etwa 70 Milliarden Dollar geschätzt. Der größte Teil dieses Geldes soll erst in den letzten 5-6 Jahren hinzugekommen sein. Seit etwa 2005 verschlanken sich die Führungs- Macht- und Profitstrukturen um den aufstrebenden Präsidentensohn Gamal und seine "Businessmen". Eine ähnliche Entwicklung wie übrigens auch in Tunesien. 
Gleichzeitig sehen die sozialen Faktoren des Landes alles andere als gut aus: Die Arbeitslosigkeit in der Region Mittlerer Osten und Nordafrika ist unter den höchsten der Welt - und speziell für die heranwachsende junge Bevölkerung werden in Ägypten in den nächsten Jahren theoretisch 75 Millionen neue Arbeitsplätze gebraucht. Gleichzeitig ist die Analphabetenrate hoch: 60% bei den Frauen - das ist doppelt so viel wie noch vor 30 Jahren. Die Lebensmittelpreise stiegen in den letzten beiden Jahren um bis zu 20% per anno, in Ägypten werden im Durchschnitt etwa 40% des Haushaltsgeldes für Lebensmittel aufgewendet. 
Die Akteure Trotz dieser Voraussetzungen wäre ein Protest wie wir ihn heute erleben kaum möglich, gäbe es nicht eine Gruppe von Akteuren, die sein Ausgangspunkt sind. Seine Wurzeln hat die heutige Revolution im Aktivismus der Studenten der Cairo University in den Jahren 2000-2004. 19-20 Jahre alte Studenten, die sich in Studentenverbindungen organisierten und Sympathie für die zweite Intifada und Protest gegen den Irak-Krieg demonstrierten. In diesen Jahren politisierte sich die Studentenschaft und machte gleichzeitig erste erschreckende Erfahrungen mit den Methoden und Möglichkeiten des ägyptischen Geheimdienstes. 
2005 kam es zur Gründung der Kiffaya-Bewegung, ausgehend vom gleichen Personenkreis demonstrierte diese Gruppe gegen eine erneute Kandidatur von Präsident Mubarak. Bei erneuten Protesten in den Jahren 2006-2008 waren die gleichen Akteure keine Studenten mehr - fühlten sich dadurch unabhängiger und mussten nicht mehr fürchten von der Universität entfernt zu werden. So entstand 2008 die Bewegung 6. April unter Israa Abdel Fattah (mehr dazu im Al-Jazeera-Video unterhalb dieses Abschnitts). Andere wichtige Namen sind Khalid Said, ein von der Polizei getöteter Blogger und Wael Ghonim, der bei Google arbeitet und die letzten Tage im Gefängnis verbrachte.  Nach der Freilassung dieses "digitalen Organisers der Bewegung" kam es nach einem Fernsehinterview zu einer großen Welle der Emotion und Sympathie, die wiederum Millionen Menschen auf die Straßen brachte.
Der erste Tag des Protests Zwei Hauptpunkte führten schließlich zu den Protesten am 25. Januar: Die vorangegangenen Parlamentswahlen im Spätjahr 2010 bestimmten mit ihrem Ergebnis, wer zu den Präsidentenwahlen aufgestellt werden kann. Die Regierungspartei NDP "gewann" praktisch alle Sitze, die Präsidentenfrage war nun eine Frage zwischen Vater und Sohn - andere Parteien konnten keine Kandidaten ins Rennen schicken. Aber eine Aussage zum zukünftigen Kandidaten wurde nicht gemacht. Möglicherweise sollte erst noch festgestellt werden, ob der Sohn Gamal auch vom Militär die nötige Unterstützung erfahren würde. Im Volk ist Gamal  vielleicht einer der wenigen, der noch verhasster ist als sein Vater Mubarak. Der zweite Punkt waren natürlich die erfolgreichen Proteste in Tunsesien. Sie beseitigten die Angstbarriere - und so kam was kommen musste, am Nachmittag des 25. Januars. 
Der 25. Januar war an sich bereits der 7. Anlauf der Organisatoren, einen Protest auf die Beine zu stellen. Auch diesmal war man sich keineswegs sicher, ob überhaupt etwas passieren würde. Doch um 17 Uhr hatten sich 20 000 Menschen auf dem Tahrir-Platz versammelt. Unter ihnen Anhänger der verbotenen Nationalisten (Nasseristen, genannt Karama), der Kommunisten und Sozialisten. Nicht zu sehen: Die Muslimbrüder, sowie die Anhänger sämtlicher legaler Oppositionsparteien wie Wafd (konservativ-säkular), Tagamu (links) und Ghad (liberal). Die Mobilisierung zu den Protesten erfolgte übrigens zum Großteil per Mobiltelefon, das in Ägypten sehr verbreitet ist. Internet haben dagegen nur etwa 9% der Ägypter. Geplant wurden die Proteste für sieben verschiedene Orte in Kairo - eine Strategie, die auf einen Dissidenten und Ex-Geheimdienstmitarbeiter der Ägypter zurück geht.
Der Protest verlief zunächst "normal". Die Polizei setzte Wasserwerfer ein, allerdings recht zaghaft, verglichen mit der Situation wenig später. Die Menge begann sich wieder aufzulösen, viele gingen nach Hause. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es auch von keiner offiziellen Stelle ein Statement zu den Protesten. Die Situation änderte sich, als die Nachricht von 3 Todesopfern in Suez die Runde machte und sich die Demonstranten spontan zu einem Sit-In entschlossen. Nun - es war inzwischen etwa 9 Uhr - kehrten viele zum Tahrir-Platz zurück, brachten Decken und Proviant mit und richteten sich für eine lange Nacht ein. Um Mitternacht ägyptischer Zeit kam dann ein offizielles Statement: Aus dem amerikanischen Außenministerium. Hillary Clinton trat vor die Presse und äußerte: "Das ägyptische Regime ist stabil." Kurze Zeit später schlug eben jenes Regime mit voller Härte los: Tränengas, Wasserkanonen und Hunde machten mit den Demonstranten kurzen Prozess. Doch die Proteste hatten gerade erst begonnen - und schließen inzwischen alle Bevölkerungsteile mit ein. 
Die Aussichten Die Position des Westens wankt noch immer - eine klare Aussage gegen das herrschende Regime kommt nicht. Der Angstgegner sind die Muslimbrüder, eine gut organisierte, in jedem Viertel vertretene Partei mit radikalen Wurzeln. Al-Hamarneh aber vergleicht sie eher mit einer "CSU im Untergrund". Eine Mischung aus konservativer politischer Partei und Caritas. Heute sind die Muslimbrüder eine Massenorganisation mit internationaler Vernetzung, großer Akzeptanz und einem pragmatischem Programm. Und besonders wichtig: mit Gewaltverzicht. Die Muslimbrüder akzeptieren heute, dass sie zwar stark, aber nicht dominant sind. Sie werden wie jede Partei auf Koalitionspartner angewiesen sein. Al Hamarneh vergleicht die Situation mit der Türkei: Erdogan kommt aus einem sehr ähnlichen Umfeld - ist selbst Muslimbruder - und führt die Türkei in Richtung EU. Ähnliches gilt für den Hintergrund des irakischen Maliki. Die Hoffnung Al Hamarnehs ist, dass sich dieser unideologische Blick auf die Muslimbrüder auch im Westen durchsetzt - im mittleren Osten ist der politische Islam bereits weitgehend akzeptiert. 
Schließlich sieht Al-Hamarneh vier mögliche Szenarien für einen Ausgang der Proteste: Sollte Mubarak nicht freiwillig gehen gäbe es zum ersten das "Pinochet-Szenario": Ein Blutbad der Armee, das die Proteste beendet. Zum zweiten das "Rumänien Szenario": Ein Blutbad, aber die Demonstranten gewinnen unter hohem Einsatz von Menschenleben. Schließlich das "Nelkenrevolution-Szenario": Ähnlich wie in Portugal 1974 könnte die Armee auf der Seite der Demonstranten den Diktaktor Mubarak absetzen. Auf welcher Seite das Militär heute tatsächlich steht ist unklar. Viele vermuten eine Spaltung zwischen Generalität (pro Mubarak) und jungen Offizieren (pro Demonstranten). Das letzte Szenario setzt einen Abgang Mubaraks voraus und ist das Wunschszenario: Radikale Reformen mit Revolutionscharakter. Hierbei bliebe der Druck der Straße bestehen, während sich eine Übergangsregierung Schritt für Schritt zu drastischen Reformen durchringt - und Ägypten schließlich zu einem freieren Land macht.
Links: Als Informationsquellen zum Fortgang der Proteste empfiehlt sich mehr noch als die deutsche Tagesschau:  Al Jazeera auf Englisch und die BBC. Auf Facebook gibt es die Gruppe "Egyptian-German Network for Changing Egypt".

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