Der Reiz der Angst

Der Reiz der AngstDie "Zeit" wagt sich an eines der letzten Tabus der Gegenwart: Die Rolle des Ostdeutschen in der politischen Landschaft. Ein mutiges Plädoyer für einen neuen Blick auf ein altes Phänomen - bisher häufig dafür gescholten, die Demokratie nur errungen zu haben, um sich ihr später zu verweigern, so schreibt die Fachautorin Cindy Seifert, müsse der Ossi eigentlich gelobt werden dafür, das demokratische Spiel mit seiner Unnahbarkeit als Erster wirklich perfekt zu spielen. Die Angst vor der Obrigkeit, die heute noch in den meisten Sachsen und Thüringern stecke, sei eine demokratische Tugend, die Demokratie erst reizvoll mache. Ein Text, den PPQ in seiner Serie "Fremde Federn" im Wortlaut dokumentiert:
"Ein Mensch, der an seinen Lebensgewohnheiten aus der DDR festhält, signalisiert, dass er für die Demokratie nicht verfügbar ist. Aber gerade das kann reizen. Schließlich gehört das Verweigern zum demokratischen Spiel.
Immer wieder höre ich von in der DDR erzogenen Menschen, die trotz einer guten Ausbildung keinen Job finden. Sie springen deshalb über ihren Schatten und legen ihren sächsischen Dialekt einer Anstellung wegen ab.
Einige von ihnen erzählten mir von einer interessanten Beobachtung: Westdeutsche, egal welcher Herkunft, scheinen sie weniger wahrzunehmen als vorher. Dabei tragen sie die gleiche Kleidung, schminken sich gleich, nur der Hinweis auf ihre Herkunft fehlt. Aber die Westdeutschen bleiben plötzlich aus.
Wie bitte? Dient denn der Dialekt nicht gerade dazu, andere darauf hinzuweisen, dass man sich seinerzeit selbst befreit hat? Bald bin ich soweit und mache Sächsisch-Test – nur mit umgekehrten Vorzeichen.
Eine mögliche Erklärung ist: Ein Mensch, der hörbar aus der DDR kommt, folgt in der Öffentlichkeit meistens einem bestimmten Verhaltens-Codex. Er zeigt sich nicht nur im textilen Sinne ostdeutsch; er vermeidet Gespräche und Körperkontakt und nimmt eine distanzierte Haltung ein. Er signalisiert damit Andersartigkeit, die nicht nur christdemokratischen Kreisen damit gleichgesetzt wird, dass der Ostdeutsche noch viel zu lernen hat.
All die modernen, aufgeklärten Westdeutschen, die jetzt empört gucken, sollten sich einmal selbstkritisch fragen, mit wem sie lieber zusammenarbeiten und befreundet sein möchten: Mit einem gleich sozialisierten Kölner, der wie sie mit Lego und Atomprotest aufgewachsen ist, oder mit einem Dresdner, der das nicht kennt? Eben. Die deutsche Sprache kennt viele Ausdrücke für letztere – Ossi ist noch der harmloseste.
Eine weitere Erklärung für die Aufmerksamkeit, die der erkennbare Ostler Frau genießt, ist, dass das Spiel von Verweigerung und Dienstbarkeit, das von jeher zum Demokratiespiel gehörte. Das, was sich versteckt, will auch entdeckt werden. Das, was ich bedecke, betone ich gleichzeitig. Wir neigen dazu, einfache Wahrheiten anzunehmen: Ein Mensch, der politisch undurchsichtig ist, soll nicht wahrgenommen, ja, will nicht wahrgenommen werden.
Dabei wird ein durch sein Misstrauen in die Demokratie unnahbar wirkender Mensch gerade dadurch zum Adressaten politischer Aufmerksamkeit und Machtphantasien – besonders in einer offenherzigen Gesellschaft, in der medial und real sonst alles gezeigt wird. Zumindest vorbewusst weiß jeder Ostdeutsche um diese Mechanismen.
Menschen, die der Politik die kalte Schulter zeigen und sich uninteressiert geben, sind ausgesprochen stark mit Politik und deren tabuisierten Seiten beschäftigt. Gerade die Abwehr zeigt die Bedeutung des Themas an.
Wie sehr Tabus wiederum zur politischen Erregung gehören, machte mir ein ostdeutscher Freund deutlich, der sich etwas melancholisch zur vorgerückten Stunde in einer Bar im sachsen-anhaltischen Flecken Schönebeck beim Anblick all der an den Laternen hängenden Politiker daran erinnerte, wie in seiner Jugend im mecklenburgischen Warin der Anblick eines Schwarzweiß-Fotos von Wolf Biermann ausgereicht habe, ihn in Erregung zu versetzen: "Und jetzt?" Er zeigt mit dem Kopf in Richtung Wahlplakate. "Nichts."


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