Der Höllenmaschinist - Teil 17 der Fortsetzungsgeschichte

   Peter machte eine abwehrende Bewegung. „Tut mir leid, daran glaube ich nicht. Aber ich will großzügig sein, ich werde dir etwas entgegenkommen, Helena. Vielleicht hast du Recht, und ein Teil der Schuld gebührt tatsächlich unserer Gesellschaft. Es stimmt, die Schulen in den Armenvierteln sind schlecht, Kinder erleben viel Gewalt, und an jeder Straßenecke werden Drogen verkauft. Da kann man leicht auf die schiefe Bahn geraten. Darum hätten wir uns kümmern müssen. Aber…“
   Helena sah ihn fragend an. Sie ahnte, dass Peter einen weiteren Schlag  vorbereitete.
   „Aber es gibt auch Menschen, die diese Ausrede nicht für sich in Anspruch nehmen können“, behauptete er, „die sind einfach böse, von Grund auf böse. Ich spreche von Leuten wie Hitler, Stalin, Mussolini, Mao oder Saddam Hussein.“
   „Die üblichen Verdächtigen.“ Sie lächelte. Helena wusste, was nun folgen würde.
   Peter bemerkte ihr Lächeln nicht. Er senkte seine Stimme und fuchtelte mit den Armen herum, als ob er einen Boxkampf mit einem imaginären Gegner führte. „Diese Männer waren furchtbare Ungeheuer. Sie taten alles aus sich selbst heraus, ohne äußere Einflüsse. Sie sind entweder böse geboren, oder sie entschieden sich im Laufe ihres Lebens bewusst für das Böse. Sie haben unschuldige Opfer überfallen, sie haben die schlimmsten Sünden begangen. Deshalb lastet auf ihnen alle Schuld der Welt. Und auch alle ihre Unterstützer waren böse und sind böse, bis in alle Ewigkeit. Sie verdienen die härteste Strafe. Ich hoffe, sie schmoren in der Hölle, in der grausamsten, die man sich vorstellen kann.“
   „Amen.“ Helena konnte sich nicht länger zurückhalten, sie fing an zu lachen.  
   Für einen Moment war er sprachlos. „Was… was ist daran so witzig? Findest du Krieg und Massenmord etwa witzig?“
   „Peter, du hörst dich an wie ein Prediger, wie ein Imam oder ein Guru. Ausgerechnet du, der vernünftige und aufgeklärte Mensch. Unschuldige Opfer, das Böse, Ungeheuer, Schuld, Sünde, Strafe – das sind die typischen Motive aus dem Kindertheater. Fehlt nur noch das Kasperle.“ Wieder lachte sie.
   „Kindertheater? Das sind doch die großen Dramen der Weltgeschichte, die Verführung durch die Sünde, der ewige Kampf Gut gegen Böse…“
   „Nein, es ist Kindertheater, auch wenn es von Erwachsenen aufgeführt wird. Aber es steckt nichts dahinter, es gibt keinen Feind, keine Sünde, keine Schuld. Auch das Böse existiert nicht. Niemand war je böse oder wird je böse sein.“
   „Wie bitte? Das Böse existiert nicht? Nazis, Kommunisten und Terroristen sind nicht böse?“
   „Nein. All diese Menschen handeln aus konkreten Situationen heraus, und die werden von allen Beteiligten erschaffen.“
   Peter verschränkte die Arme vor dem Bauch. „Das glaube ich nicht. Es widerspricht allem, was ich bisher gehört habe. Es widerspricht jeder Philosophie und Religion.“
   „Ja, weil sich eure Philosophien und Religionen auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe befinden. Möchtest du ein Beispiel für diese Behauptung?“
   „Bitte.“
   „Dann pass auf, öffne deinen Geist. Es gab mal einen Menschen, dessen Leben du ebenfalls beeinflusst hast, allerdings erst ganz zum Schluss. Sein Name war Hassan. Er starb 2003, im Dritten Golfkrieg.“
   „Och, wie schade.“ Peter grinste breit.
   „Hör dir erst seine Geschichte an, bevor du ein Urteil fällst. Hassan wurde im selben Jahr geboren wie du, Peter, nur in einem anderen Land. Seine Geburtsstadt war Tikrit, im Norden des Irak.“
   „Kenn ich. Ein dreckiges Nest.“
   „Für ihn war es die schönste Stadt der Welt, jedenfalls während seiner Kindheit. Mit seinen Freunden ging er jeden Tag im Tigris schwimmen, sie spielten Verstecken zwischen Dattelpalmen, tobten durch die Gassen der Altstadt, bewunderten die Moscheen der Muslime und die Kirchen der Christen, und in den Basaren entdeckten sie eine Welt voller wunderlicher Farben und Gerüche. Als Heranwachsender wurden ihm jedoch die Probleme bewusst, mit denen sich seine Eltern plagten. Hassans Familie war arm an materiellen Gütern, arm an Nahrung, Kleidung und Wohnraum. Reich war sie nur an Kindern.“
   „Mir kommen gleich die Tränen.“
   „Hassan suchte einen Ausweg aus seiner misslichen Lage. Eine gute Schulbildung wurde ihm nicht zuteil, einen lukrativen Arbeitsplatz bekam man nur, wenn man über die richtigen Beziehungen verfügte. Seine verwandtschaftlichen Beziehungen halfen ihm nicht weiter, denn alle in seiner Familie waren arm. Deshalb versuchte er politische Kontakte zu knüpfen – und trat in die Bath-Partei ein.“
   „Die Partei von Saddam Hussein? Helena, das ist eine pan-arabische und eine sozialistische Partei. Ihre Mitglieder haben einige der schwersten Verbrechen der Neuzeit begangen. Damit ist die Sache klar: Hassan war ein böser Mensch, er hatte den Tod verdient. Diskussion beendet.“
   „Nein, die Diskussion ist nicht beendet, weil du nicht alle Fakten kennst. Die Geschichte der Bath-Partei ist sehr verschlungen, ich werde sie jetzt nicht im Einzelnen erörtern, dafür fehlt uns die Zeit. Zusammenfassend kann man sagen, dass ihre Gründung als Reaktion auf den westlichen Imperialismus erfolgte. Lange Zeit wurden die arabischen Völker von den USA, Britannien und Frankreich, teilweise auch von Italien und den Niederlanden unterdrückt und ausgebeutet, besonders auf die Erdölschätze hatten sie es abgesehen. Die Ölgesellschaften verbündeten sich meist mit einer machtgierigen und korrupten Elite, die mit Geld und Privilegien bestochen wurde, während das Volk in tiefer Armut lebte – der bei weitem größte Teil des Gewinns ging ins Ausland. In einigen Ländern ist das heute noch so.“
   „Du musst die Hintergründe beachten, Helena. Diese Völker haben einfach keine demokratische Kultur.“
   „Ja, weil ihr diese demokratische Kultur behindert und manipuliert, wie es euch gerade passt. So war und ist es auch im Irak. Das Land war seit seiner Gründung an Britannien gebunden, die Iraker mussten ungleiche Verträge abschließen und durften ihre Politik nicht selbst bestimmen. Aufstände gegen die fremde Macht und ihre Vasallenregierung wurden brutal niedergeschlagen, Menschen, die unter anderen Umständen als Freiheitskämpfer gegolten hätten, wurden getötet oder ins Gefängnis geworfen.“ Helena sah Peter in die Augen.
   Er wich ihrem Blick aus. „Die Briten hatten ihre Gründe dafür.“
   „Ja, und genau diese Gründe trugen dazu bei, dass sich viele Menschen der Bath-Partei anschlossen. Auch Hassan. Er ging zur Armee, wurde der Panzertruppe zugeteilt und diente sich im Laufe der Jahre zum Hauptmann hoch – genau wie du, Peter.“
   „Nur mit dem gewaltigen Unterschied, dass ich in einer freiheitlichen und demokratischen Armee gedient habe.“
   „Wie groß dieser Unterschied wirklich ist, werden wir noch sehen. Wir machen einen Sprung ins Jahr 2003. Hassan hatte inzwischen eine eigene Familie gegründet. Mit seiner Frau und den vier Kindern lebte er in Bagdad, wo er ein ansehnliches Haus besaß. Und nicht nur das, er besaß ein Auto, einen Kühlschrank, zwei Fernseher, vor allem aber hatte seine Familie immer genug zu essen. In seiner Jugend war das nicht selbstverständlich. Kurz gesagt: Hassan gehörte zu denen, die etwas zu verlieren hatten.“
   „Er konnte aber auch etwas gewinnen“, hielt Peter dagegen, „nämlich Freiheit und Demokratie. Wir wollen nicht vergessen, dass Saddam ein Terrorregime errichtet hatte. Es gab keine Menschenrechte, keine freien Medien und so weiter.“
   „Das stimmt. Hassan bemerkte das große Unrecht, das Saddam und seine Leute begingen. Er sah, wie Oppositionelle gefoltert und hingerichtet wurden, er sah, wie Nachbarn und Kameraden verhaftet wurden, von denen die meisten nicht aus der Gefangenschaft zurückkehrten, und er sah auch die Massenmorde an den Kurden im Norden des Landes. Er sah es – doch er unternahm nichts dagegen. Mehr noch, er unterstützte das Regime nach Kräften, beim irakisch-iranischen Krieg gehörte er zu den höchstdekorierten Soldaten.“
   „Na bitte, du sagst es schon zum zweiten Mal, Helena. Dieser Hassan war böse, er hatte den Tod verdient.“
   „Er war nicht böse, er hat nur die Denkmuster wiederholt, die andere ihm vorgelebt haben. Das Einzige, was man ihm vorwerfen muss, ist, dass er sein Verhalten nicht hinterfragt und geändert hat. Hassan erhielt auch Denkanstöße, in großer Zahl sogar, doch er weigerte sich, sie zur Kenntnis zu nehmen. Er machte weiter wie bisher, und so kam es zur nächsten Katastrophe. Und an der warst auch du beteiligt, Peter.“
   „Du meinst die Operation Iraqi Freedom. Das war keine Katastrophe, sondern die größte Heldentat der jüngeren Geschichte.“
   „Abwarten. Wir betrachten die Vorgänge weiterhin aus Hassans Perspektive. Während seines gesamten Lebens war sein Land stets eine Diktatur gewesen – und der Spielball fremder Mächte. Diese fremden Mächte, die USA und Britannien vornehmlich, schickten sich 2003 an, einen weiteren Krieg gegen sein Land zu führen. Die offizielle Begründung lautete, der Diktator würde Massenvernichtungswaffen besitzen und sei in die Anschläge vom 11. September verwickelt. Für keine dieser Behauptungen wurden je überzeugende Beweise vorgelegt.“  
   „Helena, wir können uns die Einzelheiten ersparen. Saddam Hussein war ein böser Tyrann. Er musste beseitigt werden. Je eher, desto besser.“
   „Je eher, desto besser? Warum ist er dann so lange unterstützt worden? Saddam Hussein bekam große Mengen Waffen aus aller Welt geliefert, obwohl bekannt war, welche politischen Absichten er verfolgte. Vor allem mit dem irakisch-iranischen Krieg wurden Milliardengewinne erzielt.“
   „Hey, hey, da muss ich protestieren. Die USA haben nur wenige Waffen in den Irak geliefert. Das Meiste kam aus der damaligen Sowjetunion, China und Frankreich. Viele Länder belieferten sogar beide Kriegsparteien, darunter Schweden und die Schweiz, die Neutralen.“  
   „Das ist richtig, Peter, aber ein Unrecht hebt ein anderes nicht auf. Auch dein Land belieferte beide Kriegsparteien. Außerdem gabt ihr dem Irak Informationen, die aus der Luftaufklärung und der Geheimdienstarbeit stammten, und ihr saht tatenlos zu, als die Kurden mit Giftgas ermordet wurden.“
   „Das mag ja alles stimmen, was du da aufzählst, aber du musst die Hintergründe kennen, Helena, die Hintergründe“, sagte er beschwörend. „Saddam war damals unser Verbündeter, und das aus gutem Grund. Im Iran hatte kurz zuvor die Revolution stattgefunden, Ajatollah Chomeini war an die Macht gekommen. Auch ein böser Tyrann, nur diesmal ein religiös motivierter. Denk doch an die Botschaftsbesetzung in Teheran, eine furchtbare Sache. Zweiundfünfzig US-Bürger wurden mehr als ein Jahr festgehalten. Ein solches Regime verdient jede Strafe.“
   „Es ist bemerkenswert, wie einseitig du die Geschichte darstellst, Peter. Du hast anscheinend vergessen, was die Ursache der iranischen Revolution war. Nämlich das Gebärden des letzten Schahs von Persien, das dem eines bösen Tyrannen zumindest ähnelte – und der wurde lange vom Westen unterstützt.“
   „Wofür es gute Gründe gab. Eine Demokratie haben die Iraner nie gehabt. So was können die gar nicht.“
   „Das können sie sehr wohl. Die letzte demokratische Regierung im Iran wurde von den Briten und Amerikanern beseitigt.“
   „Glaub ich nicht. Warum sollten wir das tun?“
   „Rate mal. Wegen des Öls natürlich. Die Briten hatten die iranischen Ölfelder unter ihrer Kontrolle. Von den Gewinnen erhielten die Iraner zwanzig Prozent, für sich selbst beanspruchten die Briten achtzig Prozent. Laufzeit des Vertrages: sechzig Jahre. Es kam zu Unruhen, der iranische Premierminister Mossadegh drohte mit der Verstaatlichung der Ölindustrie. Sein Gegenspieler, der britische Premier Churchill, setzte sich daraufhin mit dem US-Präsidenten Eisenhower in Verbindung. Gemeinsam beschlossen sie, die frei gewählte Regierung zu stürzen und den Schah wieder an die Spitze des Landes zu bringen. Ausführende Organe waren der britische und der amerikanische Geheimdienst. Die Operation Ajax kostete nicht mal eine Million Dollar. Anschließend exportierten die westlichen Unternehmen Öl im Wert von vielen Milliarden Dollar.“
   „Na das nenn ich mal ein gutes Geschäft.“ Peter lachte genüsslich. „Entschuldige, war nur ein Witz. Du musst aber auch bedenken, dass die Briten das Öl entdeckt und gefördert haben. Allein wären die Iraner da doch nie rangekommen.“
   „Und für diese Dienstleistung sollen sie einen so hohen Anteil des Gewinns bekommen? Was für eine Verzinsung des eingesetzten Kapitals mag sich daraus ergeben? Fünfhundert Prozent? Fünftausend Prozent?“
   „Keine Ahnung. Diese Zahlen bleiben geheim.“ Wieder grinste er breit. 
Fortsetzung folgt.
Unter diesem Link finden Sie die bisher erschienen Teile.
Der Höllenmaschinist - Teil 17 der Fortsetzungsgeschichte
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Der Höllenmaschinist - Erzählung
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