Der fremde Camus

Bücher sind eigentlich eine tolle Sache. Finde ich zumindest. Gerade im Unterricht gibt es nichts Schöneres; Bücher sind greifbar, vermitteln Wissen, sind spielerisch und zugleich sehr vernünftig, man lernt im Normalfall ungemein viel und wenn man schon nicht jede Stunde einen Film gucken kann, dann sind Bücher eben die von den Schülern am liebsten gesehene Alternative.
Aber welche Bücher liest man heute, welche Bedeutung haben Bücher überhaupt noch? Hier ein paar Überlegungen aus den Französisch-Stunden:

Ging es im Französisch-Unterricht in den ersten drei oder vier Jahren noch hauptsächlich darum, Grammatik und Vokabeln zu lernen, steht im weiteren Verlauf eher das Sprachgefühl an und außerdem muss man Frankreich kennen lernen und dazu gehört selbstverständlich die Kultur. Naheliegend, dass da das ein oder andere Buch gelesen wird.
In meinem Kurs haben wir angefangen mit dem Klassiker, Saint-Exupérys wundervollem „Der Kleine Prinz“, dicht gefolgt von Lelords „Le voyage d‘Hector ou la recherche du bonheur“ (auf deutsch „Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück“) , wahrscheinlich wegen ähnlicher, inhaltlicher Aspekte. Im letzten Jahr nahmen wir am sogenannten „Prix des Lycéens allemands“ teil, einem von deutschen Schülern an französische Jugendbücher verliehenen Preis. Dafür lasen wir keine besonders prickelnden Bücher, vielleicht komme ich in einem späteren Artikel darauf zurück. Zudem beschäftigten wir uns mit Anna Gavalda, einer, wie ich finde, fürchterlichen Autorin, falls ich das anmerken darf, schnitten kurz verschiedenste, französische Autoren an, unter anderem Francoise Sagan, über die ich sicher noch einmal schreiben werde. Jedenfalls…

Vor einigen Wochen begannen wir mit einem neuen Thema, einem Buch, das auch der Hauptaspekt für unsere Klausur werden sollte: Albert Camus „L’étranger“ – Der Fremde.
Die Geschichte erzählt von einem Mann in Algerien, Meursault, der nicht nur seiner Umgebung, sondern auch dem Leser fremd ist und bleibt. Meursault lässt sich weder positiv, noch negativ beschreiben, er ist einfach nichts, er spricht nicht, wenn er nichts zu sagen hat, er mag kaum etwas und hasst noch viel weniger, hat nur wenige, oberflächliche soziale Kontakte und im Prinzip ist ihm alles egal. Er lebt jeden Tag mehr oder weniger gleich und verabscheut Abwechslung, auch wenn er das so nicht direkt sagt und als seine Freundin ihn fragt, ob die beiden nicht heiraten wollten, ist ihm das so gleich wie das Angebot seines Chefs, ihm einen guten Job ihn Paris zu verschaffen. Alles läuft und zwar offensichtlich ziemlich gut, man könnte sich vorstellen, dass Meursault es schafft, sein ganzes Leben so zu konzipieren und dass er damit nicht einmal unglücklich ist. Bis zu dem einen Tag, an dem Meursault aus verschiedensten Gründen und komischer Weise beinahe aus Zufall einen Araber erschießt. Von nun an verändert sich alles…
Zuerst scheint es, als sei Meursaults Fall im Algerien der 30er Jahre nichts Besonderes, ein Bagatelldelikt, das bald vom Tisch sein wird. Aber die Sache steigert sich, entwickelt etwas wie ein eigenes Leben und bald geht es in den Untersuchungen mehr um die Einstellung Meursaults zur Religion (und die ist ihm (Überraschung!) egal…) und darum, dass ihn bei der Beerdigung seiner Mutter einige Zeit vor dem Mord niemand weinen sah, als um den eigentlichen Fall. Als Sündenbock für eine zerrüttete Gesellschaft wird Meursault schließlich zum Tode verurteilt in einer Verhandlung die ihm, dem Angeklagten Meursault kaum weniger Interesse entlocken könnte.
Erst später, in seiner Zelle, beginnt der Verurteilte sich mit der Sache auseinander zu setzen. Zuerst setzt er seine Hoffnungen in die Berufung, schmiedet wahnsinnige Fluchtpläne und hofft auf Unmöglichkeiten. Nach und nach findet er sich mit seinem Schicksal ab, schwört ein letztes Mal allen Göttern ab und wünscht sich nur noch eins: „[...] am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit Schreien des Hasses empfangen [...]“

Camus packt in diese ursprünglich politisch motivierte und autobiographisch gespickte Erzählung seine eigene Philosophie, die Philosophie des Absurden. Diese geht davon aus, der nach Sinn suchende Mensch lebe in einer sinnleeren Welt. Diesen Widerspruch gilt es zu erkennen, das Schicksal als den Menschen allein vorbehalten anzuerkennen. Bezeichnend dafür auch Camus „Der Mythos von Sisyphos“ (frz. „Le mythe de Sisyphe“). Das Schicksal sei eine Angelegenheit der Menschen und müsse unter ihnen geregelt werden, heißt es darin. Jeder sei der Herr seiner Zeit und dieses zukünftige Universum ohne Gott erscheine weder steril noch wertlos. Der Mythos, der vom von den Göttern bestraften Sisyphos handelt, der jeden Tag Steine auf einen Berg rollen muss, die allerdings immer wieder nach unten rollen, endet damit, dass Sisyphos die Existenz der Götter verneint und erkennt, dass es sein Schicksal ist, Steine zu rollen und dass er alles andere trotzdem eigenmächtig entscheiden kann. „Der Kampf selbst gegen die Steine reicht aus, um das Herz eines Menschen auszufüllen. Man muss sich Sisyphos glücklich vorstellen.“

 

Diese Erzählungen sind übrigens schon 70 Jahre alt, wie zumindest meinem Französisch-Lehrer heute auffiel. Ihm fiel damit ebenso auf, wie alt er ist, aber das ist wieder eine andere Geschichte. Fakt ist, und das ist meinem Lehrer gleich danach aufgefallen, dass man junge Menschen heute kaum noch mit solchen Texten begeistern kann, dass sie das auch ganz anders aufnehmen, behandeln.
Er, in der DDR geboren und aufgewachsen, hat noch was erlebt, falls man das so formulieren kann, wir hingegen nicht. Wir können nichts anfangen mit Literatur die beispielsweise die Schrecken von totalitären Systemen beschreibt, weil wir bereits zweitausend Mal gehört haben, dass das nicht gut ist, schrecklich, fürchterlich, aber wir können es uns nicht vorstellen, wir hören es immer und immer wieder und irgendwann verlieren selbst diese Worte an Bedeutung. Wir verstehen es nicht richtig, wenn Kämpfe zwischen Bevölkerungsgruppen toben und Minderheiten um Rechte kämpfen müssen, wie es zum Beispiel bei „L’étranger“ behandelt wird. Wir wissen, wie das abgelaufen ist und noch immer in Teilen der Welt abläuft, dennoch: Egal wie aufgeklärt wir darüber sind und wie schlimm wir uns aufregen, wirklich vorstellen können wir uns das nicht, nichts, rein gar nichts.
Früher war es möglich, sich über Literatur nächte-, tage- und monate-, ja sogar jahrelang zu streiten, heute kann einem ein Buch gefallen oder eben nicht. Den großen, angesehenen und anerkannten Literaten schmeißt man zwar noch immer Preise hinterher, ich spreche von Günther Grass und anderen, wirklich mögen oder wenigstens kennen und damit auseinandersetzen tut sich allerdings keiner mehr, keiner der Älteren und erst recht niemand der jungen Generation. Und vor allem liefert niemand mehr Nachschub, Nachschub an großartiger, provokanter Literatur, einmal abgesehen von Schockern wie Charlotte Roches „Feuchtgebiete“, das allerdings auf anderen Ebenen provoziert…

Damit will und kann ich keinen anklagen, weil ich erstens selbst zu dieser Generation gehöre, der Generation der „U-Literatur“, wie es heute jemand formulierte, der Generation der Unterhaltungsliteratur und zweitens, weil es tatsächlich so ist, dass niemand mehr diskutieren möchte, worüber auch? Die großen Fragen sind weitestgehend geklärt und wir hier in Deutschland haben große, ich möchte größtmögliche Freiheit sagen. Die Politik langweilt, irritiert und bringt keine Ergebnisse, aber es ist ja doch nicht so schlimm, als ob man sich auflehnen müsste, einfach machen lassen und abwarten, oder was?! Den zweiten Biedermeier nannte unsere Zeit jemand und im Prinzip hat er recht. Wenn sich mal jemand, gerade in meinem Alter, für Politik engagiert und seine Meinung vertritt, wird er gleich belächelt und verspottet, niemand nimmt ihn ernst, niemand nimmt noch Politik ernst. Niemand oder sagen wir kaum jemand nimmt Religion ernst, jeder hat so seine eigene Auffassung, eine Mischung aus Religion, Atheismus, Fernsehmeinung und eingebildetem oder vielleicht manchmal sogar halbwegs wahrem Individualismus.

Und wenn heute mal Bücher im Unterricht gelesen werden, dann sind sie eine willkommene Abwechslung, besonders, da sie Gruppenarbeit versprechen, aufregendere Sachen als Frontalunterricht und ja, man diskutiert auch mal mit, aber seien wir mal ehrlich: wirklich zu Herzen nimmt sich schulische Lektüre heute keiner mehr und ich habe noch von keinem Schüler einmal ehrlich und in Entfernung zu Lehrern gehört, er hätte aus einem dieser Bücher tatsächlich etwas gelernt oder fürs Leben mitgenommen.

Würde Camus für einen Tag aus dem Grab aufsteigen, er wäre jetzt wahrscheinlich der Fremde in einer ihm völlig unverständlichen Welt und er wäre es, aus dem niemand mehr schlau wird. Es mag einige Künstler geben, denen es ähnlich ergehen würde…


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