Der Einschlafakkord


„Die Welt schläft ein“ – CLICK

Im Finalsatz von Mahlers Lied von der Erde gibt es nach etwa acht Minuten eine Stelle, die mir beim Hören immer besonders auffällt. Der Orchestersatz fällt in sich zusammen, und die Altstimme singt, ganz allein über einem Orgelpunkt, die Worte: „Die Welt schläft ein.“

Die Stimme ist hier in keine komplexe Orchesterfaktur eingewoben, und so sind die Worte nach längerer Zeit die ersten, die man problemlos versteht. In den Minuten vorher schweifen meine Gedanken oft etwas ab, aber hier bin ich augenblicklich wieder dabei. Die Welt schläft ein. Ich habe mich manchmal gefragt, warum diese Stelle so suggestiv ist.

Robert Schumann – Kind im Einschlummern, Ende

Robert Schumann – Kind im Einschlummern, Ende

Vor kurzem ist mir aufgefallen, dass es eine andere berühmte (und in seltsamer Weise vergleichbare) Stelle gibt, die das Einschlafen musikalisch gestaltet: Das Kind im Einschlummern aus Schumanns Kinderszenen – das wahrscheinlich erste Stück der Musikgeschichte, das nicht auf der Tonika endet. Die Gedanken des Kinds verschwimmen, entgleiten, rutschen irgendwann ins Reich der Träume hinüber – und die Musik hört einfach mittendrin auf. Auf einem Quartsextakkord.

Es hätte zu Beginn des 19. Jahrhunderts wohl kaum einen merkwürdigeren Weg gegeben, ein Stück zu beenden. Im Harmonielehreunterricht braucht der Quartsextakkord nur wenige Unterrichtsstunden. Er gleitet zur Tonika zurück, lernen wir. Es gibt ihn als Vorhalt, als Durchgang oder als Wechselnote. Er ist fast ornamental, größere funktionale Bedeutung hat er nicht. Er strebt nirgendwo hin, verändert nichts und deutet nichts um. Er ist instabil und führt in der Regel wieder dorthin zurück, wo er hergekommen ist.

Für instabile Schlüsse gäbe es auch andere Möglichkeiten. Schumann hätte sein Kind im Einschlummern beispielsweise auf der Dominante enden lassen können. Das wäre ebenfalls ungewöhnlich gewesen. Aber dann hätte der Schluss stark nach vorne gedrängt – die Dominante strebt zur Tonika, der Leitton strebt zum Grundton – eine Auflösung, die dem Hörer dann schmerzlich vorenthalten geblieben wäre.

Doch der Quartsextakkord? Er strebt kaum irgendwohin. Gewiss, meist fällt er zur Tonika zurück. Aber er drängt, drängelt nicht dorthin. Es passiert einfach, weils halt so üblich ist. Ja mei. Ein Ende auf dem Quartsextakkord ist gerade KEIN Ende an der spannendsten Stelle. Sondern ein Ende irgendwo in einer Nebenhandlung. Genau wie die letzten Gedanken vor dem Schlaf. Unwichtige, zufällige Fetzen.

Gustav Mahler, Das Lied von der Erde, 6. Satz: Der Abschied

Gustav Mahler, Das Lied von der Erde, 6. Satz: Der Abschied

Nun (der kluge Leser ahnt es bereits): Auch Mahlers Welt schläft – TATAA – über einem Quartsextakkord ein. Im Bass liegt nicht irgendein Orgelpunkt, sondern eine Quart – A und D. Die Altstimme singt darüber zweimal die Terz d–f. Ein Moll-Quartsextakkord über dem Grundton A – die Tonart ist a-moll. Exakt dieselbe harmonische Situation wie bei Schumann in e-moll.

Ich denke nicht, dass Mahler beim Komponieren an Schumanns Kinderszenen gedacht hat und den Effekt nachgebildet hat. Hier haben wohl zwei Komponisten dieselbe Entdeckung gemacht – die Verbindung des seltsam unbestimmten, unfertig wirkenden und dennoch nirgendwo hindrängenden alleinstehenden Quartsextakkords mit dem poetischen Bild des Einschlummerns.

Anders als Schumann löst Mahler den Quartsextakkord – wenn auch erst nach einer langen Fagottkadenz – konventionell in die Tonika a-moll auf. Doch Lage und Instrumentation sind so düster, dass man die Auflösung kaum als folgerichtig, sondern eher als bizarr und fremd wahrnimmt. Auch bei Mahler bricht der Gedanke brüsk ab. Wenige Takte später beginnt eine neue Strophe mit neuer Atmosphäre. Es geht nun um Abschied, Freundschaft, Schönheit. Das Einschlafen ist suspendiert. Erst zwanzig Minuten später, ganz am Ende, holt Mahler nach, was bei Schumann unmittelbar folgt: das Versinken im Nichts, in den blauenden Weiten. Ewig, ewig, ewig, ewig, ewig…


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