Den New Conservatism verstehen lernen

Den New Conservatism verstehen lernen

Quelle: VAT Verlag

Lynndie England und Joe Bageant sind aus derselben Gegend. Aus den beiden Virginias. England machte Karriere als Foltermagd von Abu Ghuraib. Ihr kühles und sadistisch paffendes Gesicht ging um die Welt. Bageant wurde Journalist. Beide sind Kinder einer Arbeiterklasse, die gesellschaftlich vernachlässigt wurde und die es laut der von den Medien verbreiteten Ideologie von der "klassenlosen Gesellschaft" eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. In Auf Rehwildjagd mit Jesus nimmt Bageant mit auf einen Streifzug durch ein kaltes, ja mörderisches Milieu, in dem fundamentalistische Kirchen auf fruchtbaren Boden stoßen.
Obwohl die propagierte Klassenlosigkeit Doktrin ist, spricht Bageant von "der großen Masse der Unterbezahlten, wenig Gebildeten und Überarbeiteten". Die Mittelschicht sei abhängig von Menschen seiner Klasse, erklärt der Autor weiter. "Wir sind der Grund dafür, dass sich Amerika einer niedrigen Inflation erfreut und die privaten Altersruhegelder der Mittelschicht stabil bleiben. Gleichzeitig hat man dafür gesorgt, dass die Arbeiterschaft vollständig am Tropf der Sozialhilfe-Programms hängt, eines Programms, das sich Social Security nennt und von der besitzenden Klasse über kurz oder lang durch die Hintertür gekürzt und privatisiert werden wird, um die Aktienkurse in einer auf wundersame Weise den eigenen Interessen dienenden Schleife und ganz im Sinne der von ihnen am meisten profitierenden oberen Mittel- und Oberschicht in die Höhe zu treiben."

Folgt man Bageant durch die Lebenswelt seiner Klasse, so glaubt man sich in ein Entwicklungsland versetzt, in das sich zu allem Überdruss auch noch religiös-rassistische Fanatiker verirrt haben. Er berichtet von schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen, in denen es Mitarbeiterrechte nicht gibt; von unbezahlbaren Krankenhausrechnungen und von Pflegeheimen, die entweder nach "Scheiße und Spülmittel" oder "Scheiße und Pisse" riechen; vom letzten Trost wenig gebildeter und auf dem Arbeitsmarkt schlecht behandelter Menschen: dem Evangelikalismus; davon, dass der Betrug zur amerikanischen Tugend erklärt wurde, wie man an den (so gut wie nicht vorhandenen) Vergabekriterien von Immobilienkredite sah, die horrende Zinsen und programmierte Obdachlosigkeit beinhalteten. Und es geht um Gewehrläufe, die Freiheit, sich Waffen zu halten, für die Bageant, sich selbst als linker Liberaler bezeichnend, vehement eintritt. Für europäische Ohren ist jenes Kapitel schier unerträglich; Bageants Waffen- und Lagerfeuerromantik und der Versuch, die Gefahr anhand von Statistiken herunterzuspielen, kann für Europäer wahrscheinlich nicht nachvollziehbar sein. Man muss sein Loblied auf den freien Waffenbesitz nicht teilen, sollte aber vielleicht aufgrund seiner Herkunft Verständnis aufbringen.
Überhaupt geht es dem Autor überwiegend um Verständigung. Zurück zu Lynndie England, die in diesem Milieu sozialisiert wurde. Sie galt als gute Schülerin - "das heißt aber nicht viel in Orten, in denen man das schulische Niveau absenkt, bis es im Erdreich verschwindet, um allen ein Durchkommen zu ermöglichen, die überhaupt zur Schule gehen." Sie wuchs in familiärer Zerrüttung auf, was nicht selten Folge fehlender sozialer, ökonomischer und kultureller Teilhabe ist. Sie hatte nie eine Chance, schreibt Bageant und wirbt um Verständnis. Zwischen evangelikalem Fanatismus, einer Ökonomie der Selbstsucht und prekärer Beschäftigung formiert sich nicht das Beste im Menschen, sondern stellt sich die seelische Angeschlagenheit, die psychische Verkrüppelung heraus. England ist demnach mindestens so ein Opfer, wie es ihre Opfer im irakischen Kerker waren.
So muss man aber nicht zwangsläufig enden, wenn man in einem solchen Umfeld seine Sozialisierung, seinen prägenden Stempel für das weitere Leben, erhält. Man kann auch einfach nur proletarischer Anhänger eines elitären Programmes werden. Wenn man sich gemeinhin fragt, von wo sich die Basis für die Tea-Party-Bewegung rekrutiert, so gibt Bageant deutlich Auskunft darüber. In dem Milieu der verleugneten Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten ist der Keim der Reaktion angelegt; sie ist so geprügelt und verdummt worden, dass sie Programmen zujubelt, die ihr selbst nur schaden. Bei der letzten US-Präsidentschaftswahl wählten fast fünfzig Prozent aller Wähler den der Tea Party nahen, reaktionären Kandidaten Romney. Wer diese Renaissance des New Conservatism verstehen will, der sollte sich an Bageants Essay wagen.
Auf Rehwildjagd mit Jesus. Meldungen aus dem amerikanischen Klassenkampf von Joe Bageant erschien im VAT Verlag André Thiele.
(Diese Buchbesprechung erschien in gekürzter Fassung bereits im Neuen Deutschland.)

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