Das Geheimnis der Heumilch: Warum schmeckt sie anders?

HeumilchGenuss hat für mich viel mit Gedankenkraft und Fantasie zu tun. Deshalb bin ich ein Fan von schmückenden und detailverliebten Produktbeschreibungen. Ein schnödes „Vanilleeis“ schmeckt mir weniger gut als ein Sahneeis mit Tahiti Vanille – sofern dann auch drin ist was drauf steht. Wenn bereits beim Lesen vage Assoziationen und vorfreudige Fantasien das Genusserlebnis einleiten, dann hat das für mich nichts mit Schaumschlägerei zu tun. Wer ein gutes Produkt herstellt, hat das Recht – nein, sogar die Pflicht, dieses Produkt auch richtig in Szene zu setzen. Dazu gehört für mich auch die semantische Ausgestaltung dessen, was mir angeboten wird. Anderes Beispiel gefällig? „Heumilch aus dem Zillertal“.

Heumilch: Was steckt dahinter?

Genuss hat aber natürlich auch mit Glaubwürdigkeit zu tun. Genuss-Labels, die – abgesehen vom schönen Klang – keinerlei geschmackliche Berechtigung haben, sind für mich Irreführung des Verbrauchers. Schon oft habe ich mich deshalb gefragt, was eigentlich hinter dem Begriff „Heumilch“ steckt. Immer häufiger sehe ich im Einzelhandel diese als Qualitätsmerkmal inszenierte Bezeichnung, auch in Form von Heumilchkäse oder Heumilchjoghurt. Der Geschmackstest beim Joghurt-Tasting ließ mich überrascht zurück: Tatsächlich kam mir das Aroma von Heumilchjoghurt viel voller, milder und süßlicher vor. Dazu weckt das Wort Heu natürlich positiv besetzte Assoziationen von gemähtem Gras, dem Duft einer heugefüllten Scheune, von Sommer. Was ist also wirklich dran am Qualitätsprädikat „Heumilch“. Im Zillertal fand ich die Antworten auf meine Fragen. Was unterscheidet Heumilch von normaler Milch? Und was ist dann eigentlich „normale“ Milch?

Heumilch Die Erlebnissennerei Zillertal gehört zu den Heumilch-Pionieren in Österreich. 1954 begann die Familie von Christian Kröll in Mayrhofen Käse zu produzieren. Damals mit einem 1000 Liter-Kessel. „Mehr geht nicht, dachte der Opa damals,“ blickt sein Enkel und heutiger Geschäftsführer Christian zurück. Es kam anders: Heute liefern die Milchlaster der Sennerei täglich etwa 60.000 Liter Milch an. Das Besondere: 100% dieser Milch fällt unter die Bezeichnung „Heumilch“. Einen besseren Ort, um dem Ursprung dieses Wortes auf die Spur zu kommen, gibt es wohl nicht.  „Bio-Heumlich, Ziegenheumilch und Schafsheumilch kommen hier ebenfalls an,“ erzählt Kröll weiter, als wolle er unterstreichen, dass er der richtige Mann ist, um meine Fragen zu beantworten.

Was ist Heumilch?

Im Grunde ist es ganz simpel: Heumilch ist Milch von Kühen, die ausschließlich frisches Gras und getrocknetes Heu gefressen haben. Das heißt: Kein lange in Silage-Vorrichtungen gelagertes Gras. „Heufütterung ist die ursprünglichste Art der Fütterung“, erklärt Christian Kröll. Das ist einleuchtend: Moderne Einlagerungsmöglichkeiten wie Silos oder PVC-umspannte Grasballen gab es früher nicht. Damit klärt sich auch die Differenzierung: Das Gegenteil von Heumilch ist Silage-Milch, also Milch von Kühen, deren Futter aus großen Silos kommt, wo das Gras ungetrocknet gelagert wurde. Trocken oder feucht – dieser Unterschied ist essentiell für die gesamte Wertschöpfungskette: Beim Mähen des Grases, speziell mit großen Industrie-Maschinen, kommt es zu leichten Verunreinigungen der Ernte. Maulwurfshügel, abgestorbene Pflanzen und Kleintier-Kadaver werden unausweichlich mit aufgenommen. Beim Trocknen des Heus fallen diese Verunreinigungen aus den Gräsern heraus und zurück bleibt ein reines, bekömmliches Prdoukt, die hochwertigste Form des Tierfutters. Durch den Wasser-Entzug wird Bakterienwachstum verhindert und spätestens beim Aufschütteln vor der Fütterung fallen die getrockneten Schmutzpartikel aus dem Heu. Heu-Trocknung macht allerdings deutlich mehr Arbeit als das Abladen im Silo, womit sich unter anderem der höhere Preis von Heumilch erklärt. 1,45 Euro kostet der Liter im Supermarkt. Und man schmeckt den Unterschied. Wie ich ihn beschreiben würde? Heumilch schmeckt mehr wie unbehandelte Rohmilch, frisch aus dem Euter: Vollmundiger, intensiver und süßlicher.

Heumilch

Das Gegenteil von Heumilch: Silage-Milch

Warum gilt Heumilch als hochwertiger als Industrie-Silagemilch? Für Silage-Futter kommt Gras in nasser Form in die Lagerstätten und trägt dabei unter Umständen noch einen Großteil der Verschmutzungen bei sich. In den Silos findet durch die Feuchtigkeit eine Vergärung des Grases statt, wodurch sich Bakterien bilden und automatisch Gase und Sporen freigesetzt werden. Über die Frage, ob Silage-Futter für Kühe deshalb schlechter bekömmlich ist, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Unbestritten ist allerdings die Tatsache, dass die Rohmilch von Silage-gefütterten Kühen durch die Gärungsprozesse im Silo Clostridiensporen (Buttersäurebazillen) enthält. Sie überstehen die Pasteurisierung und müssen bei Schnitt- und Hartkäse aus Silagemilch durch eine Zentrifugalentkeimung oder durch Konservierungsmittel wie Nitrat oder Lysozym unterdrückt werden. Rohmilchkäse lässt sich aus Silagemilch desehalb nicht herstellen. Eine zusätzliche Behandlung, ggfs. sogar chemisch ist also notwendig, um Silagemilch aus dem Rohzustand vollends genießbar zu machen. Passiert das nicht, würde sich Hartkäse während der Reifung aufblähen und Geschmacksfehler entwickeln. Die Heumilch hingegen bleibt von der Sporen-Problematik unberührt. So können Milch und Käse viel näher am natürlichen Zustand und am natürlichen Geschmack des Rohstoffs bleiben.

„Sonnengetrocknetes Heu“ – wirklich?

Wer garantiert mir aber, dass sich zwischen die gute Heumilch nicht auch der ein oder andere Liter  Silage-Milch mischt und meine romantische Vorstellung von den heufressenden Kühen ad Absurdum führt? „Wenn wir Heumilch produzieren, müssen wir strenge Regularien einhalten“, sagt Christian Kröll. Seine Lieferanten besitzen keine Silos, die Struktur der zuliefernden Betriebe macht Silage-Fütterung überflüssig. Wie alle anderen Heumilch-Betriebe unterliegt auch Kröll dem „Heumilch-Regulativ“. Wer das Heumilch-Logo, das Gütesiegel der AMA Österreich tragen will, muss folgende Bedingungen erfüllen (Download):

  • Heumilch wird gänzlich ohne Futter aus Silage – vergorene Futtermittel – erzeugt.
  • Die Fütterung erfolgt im natürlichen Jahreslauf: Im Sommer sind beinahe 1.000 Gräser und Kräuter auf den Wiesen, Weiden und Almen die Nahrungsquelle der Heumilchkühe. Im Winter werden die Tiere mit Heu versorgt. Als Ergänzung erhalten sie mineralstoffreichen Getreideschrot.
  • Die Anzahl der Tiere auf den Feldern ist beschränkt.
  • Der Erhalt von Grünlandflächen und die Bewirtschaftung von Biodiversitätsflächen sind geregelt, um die Artenvielfalt der Pflanzen auf den Weideflächen zu fördern.
  • Heumilch ist durch unabhängige Kontrollstellen garantiert gentechnikfrei.

Dieses Regulativ ist wichtig. Der Begriff „Heumilch“ für sich ist keine geschützte Bezeichnung und jeder Betrieb kann seine Richtlinien dafür theoretisch selbst festlegen. Das AMA-Gütesiegel gewährleistet Transparenz für den Verbraucher, der so erkennen kann, welche Heumilch wirklich ernst gemeint ist.

Wenn Christian Kröll vom Leben einer Heumilchkuh erzählt, klingt das nicht nur ernst, sondern leidenschaftlich: „Im Sommer bekommen die Kühe frische Wiesenkräuter und Quellwasser auf den Almen. Im Winter fressen die Kühe das sonnengetrocknete Heu im Tal, schwärmt er.  Beim Wort „sonnengetrocknet“ werde ich hellhörig. Schon wieder so ein Wort, das verdächtig romantisch klingt – ich frage nach. Ist das Heu wirklich sonnengetrocknet? Warum macht man das nicht in der Scheune? Ein Marketing-Gag? „Zumindest ein Teil ist immer sonnengetrocknet, das geht aufgrund der Mengen, die zur Fütterung benötigt werden, gar nicht anders,“ erklärt Kröll. „Mit Heubelüftungsanlagen geht’s einen Tag schneller, aber grünes Futter schaffen sie nicht. Zumindest Vortrocknung an der Sonne muss also sein.“ Wieder wird deutlich: Die Heumilch-Produktion kostet Zeit und Aufwand. Das soll sich für Bauern und Verarbeitungsbetriebe natürlich bezahlt machen.

Heumilch

„Almmilch“ – die Steigerung der Heumilch

Heumilch wird als Premium-Produkt vermarktet, davon profitiert die gesamte Wertschöpfungskette. Für einen Liter Bio-Heumilch zahlt die Erlebnissennerei Zillertal ihren Lieferanten 60 Cent, für Nicht-Bio Heumilch 46 Cent, was deutlich über dem Durchschnitts-Milchpreis in Deutschland liegt (35 Cent). Doch sein Aushängeschild, die Tiroler Heumilch reicht Christian Kröll nicht aus. Er will höher hinaus, mit seiner „Almmilch“. Sie ist die Steigerung der Heumilch, ein saisonales Produkt, das nur während des Almsommers verfübgar ist. „Die Struktur unserer Almmilch kann man nicht nachbauen,“ sagt Kröll. Almmilch darf sich nur jene Milch nennen, die in der Alm-Zeit zwischen Juni und Oktober von jenen Kühen gemolken wurde, die den gesamten Tag auf Bergwiesen grasen und lediglich zum Melken in den Stall geholt werden. Das ist für Kröll die Krönung der Milch. Die Tiere fressen dann garantiert nur frisches Gras und Wildkräuter, trinken Bergquellwasser und atmen permanent Bergluft. Gelagertes Heu darf nicht zum Einsatz kommen. Wenn der Geschäftsführer vom neuen Vorzeigeprodukt erzählt, sprechen gleichzeitig Leidenschaft und Geschäftssinn aus ihm. Dass sich das Bild dieser Alm-Idylle gut vermarkten lässt, ist kein Geheimnis. Doch ich will mir selbst einen Eindruck von den Bedingungen auf knapp 2000 Metern Höhe machen. Wir fahren auf die Stadelbachalm, wo Christian Kröll als Kind seine Sommer verbrachte, um im Familienbetrieb mitzuhelfen.

HeumilchEine halbe Stunde lang kurven wir in Serpentinen hinauf zur Alm, ich suche die Hänge ab nach den Kühen, die hier irgendwo sein müssen. Als wir ganz oben angekommen sind, habe ich noch immer keine zu Gesicht bekommen. Christian Kröll erklärt mir, dass sich die Tiere an heißen Tagen in den Schatten der Wälder zurückziehen.Wälder gibt es hier viele und ich erkenne, wie riesig die Weide ist. Kilometer entfernte Waldabschnitte gehören zum Territorium, auf dem sich die Kühe hier oben bewegen dürfen. „Morgens ist die erste Aufgabe, die Kühe zu suchen, das kann dann schonmal zwei Stunden gehen.“ Die Tiere schlafen im Freien, nur einmal am Tag müssen sie in den Stall getrieben werden, um sie zu melken. Das ist die Aufgabe der Senner auf der Alm: Kühe suchen, Kühe zum Stall treiben, Kühe melken. Das diese Arbeit tagfüllend sein kann, versteht man erst, wenn man die Ausmaße dieser Weiden selbst gesehen hat. Dieses Szenario wird meinen romantischen Assoziationen beim Wort „Heumilch“ mehr als gerecht. Ein besseres Buffet kann man einer Kuh kaum bieten. Gleichzeitig macht diese Art der Haltung wahnsinnig viel Arbeit.

Hommage an ein hochwertiges Produkt

Heumilch ist kein neues Produkt. Die Fütterung ohne Gärfuttermittel ist die traditionellste Form der Fütterung. Doch nach diesem Tag wird deutlich, warum seit den 60er Jahren immer mehr Bauern auf Silage-Fütterung umgestiegen sind. Das Prozedere bei der Silage-Fütterung ist extrem effizient: Mähen, einpacken, im Stall verfüttern. Kein mühsames Kühe-Suchen, kein Trocknen, kein Platzverlust. Die Renaissance der Heumilch ist deshalb auch eine Hommage an das wertvolle Lebensmittel Milch. Es in seiner reinsten Form – als Heu- oder Almmilch zum Verbraucher zu bringen, ist das Ziel von Betrieben wie der Erlebnissennerei Zillertal. Um dieses mit der österreichischen Bergwelt so eng verbundene Produkt vor Nachahmung zu schützen, trägt die Österreichische Heumilch seit März 2016 das EU-Gütesiehel  g.t.S., was für „garantiert traditionelle Spezialität“ steht und gewährleistet, dass ein gleichbleibend traditionelles Herstellungsverfahren zur Anwendung kommt.

HeumilchGanz schön viel Wirbel um ein so kleines Wort. Am Ende ist die Heumilch für mich eine Mischung aus logisch nachvollziehbaren biochemischen Prozessen, die zu einem reineren Produkt führen und geschickter werbeweirksamer Nutzung des Berg-Idylls und der traditionellsten Art der Fütterung. Die Tatsache, dass Heu der natürlichen Ernährung einer Kuh näher kommt als Silage lässt sich nur schwer wegdiskutieren. Die herrlichen österreichischen Bergweiden, auf denen sich viele Kühe aufhalten, mitsamt ihrer ernährungsphysiologischen Vorteile, lässt sich nicht leugnen. Dass Heumilch im Gegensatz zu Silo-Milch quasi keine Clostridiensporen enthält ist wissenschaftlich belegt. Wer also beim Genuss von Heumilchprodukten einen Unterschied zu schmecken glaubt, darf seinen Geschmacksrezeptoren trauen: Heumilch und die daraus gewonnenen Produkte schmeckt anders, in meinen Augen deutlich besser. Jetzt, wo ich die Hintergründe kenne und die Almen gesehen habe, erst recht.


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