Chronist seines eigenen Versagens

oder Das Scheitern der Soziologie.
Der Mann im Schatten Sarrazins schreibt nun regelmäßig für jenes Blatt, dass Sarrazins Schatten ins Licht rückte. Wöchentlich. Berichte aus Neukölln. Seinem Revier. "Bei mir stehen" die Hälfte aller Leute Mitte zwanzig in Arbeitslosengeld II-Bezug. Genau so schreibt er das - bei mir. Dieser König von Neukölln berichtet über Gesocks, faules Gesindel, ausländische Arbeitslose, arbeitslose Ausländer und den aussichtslosen Kampf anständiger Bürgersleut' wie ihn, diese Zustände irgendwie zu korrigieren. Seine Berichte sind Litaneien an Vorwürfe. Alles ist eigenverantwortlich. Fehlende Integrationsbereitschaft, Arbeitslosigkeit und Lethargie, Lustlosigkeit auf Leistung und natürlich die diesem Trauerspiel immanente Gewaltbereitschaft. Nichts scheint von äußeren Einflüssen in diesem Bezirk entstanden zu sein - alles kommt aus diesen Menschen selbst.

Für diesen kauzigen Chronisten ist Neukölln ein Pool an Menschen, die ihre Misere selbst verursacht haben und aus freien Stücken in ihr harren. Sie haben nur die Chancen nie ergriffen, die Angebote angenommen, die die Gesellschaft ihnen in reichlicher Zahl gab. Selbst wenn sie mal eines dieser Angebote annehmen, eine Lehre beginnen, dann würden sie sie bald wieder abbrechen. In seinem Bezirk sei die Abbruchrate besonders hoch, schreibt er. Wie überhaupt alles in seinem Revier besonders schlecht sei. Trotzdem lautete sein verwirrender Appell, dass Neukölln überall sei - und das, obgleich er doch nun wöchentlich festhält, dass es ausgerechnet in diesem Neukölln besonders ungeordnet, chaotisch und schlecht zugehe.
Was der Mann da schreibt, sind weniger die Beschreibungen einer Klientel, die unbelehrbar ist, als die Skizzierung einer Gegend, die von der Politik schon lange verlassen und aufgegeben wurde. Einer Gegend, die politisch gewollt zum sozialen Brennpunkt hinabgereicht, in die nicht mehr investiert, soziale Einrichtungen nicht mehr geschaffen wurden. Eine vernachlässigte Gegend, wie man sie in allen Metropolen Europas findet. Ein Banlieu, das kommunalpolitisch totgespart wird. Dieser Chronist schreibt von einem Stadtteil, der von den Geldern der öffentlichen Hand fast nur in Form von Polizeieinsätzen etwas hat.
Diese wöchentliche Kolumne ist nicht der Bericht eigenverantwortlich gescheiterter Lebensentwürfe. Es ist die Chronik politischen Versagens, klassistischer Klientelpolitik. Es ist die Aufzeichung des Gegenteiles von Hochglanz- und Trendvierteln, die mit öffentlichen Geldern ausgestattet werden, die dann in Stadtteilen wie Neukölln fehlen. Der Chronist beschreibt insofern nicht das Versagen der Menschen in seinem Bezirk, sondern er erfasst das politische und somit auch sein eigenes Versagen.
Natürlich sind die Normen des Verhaltens in einem solchen Milieu andere. Sie unterscheiden sich zu den bürgerlichen Werten, die ja auch dieser selbstgerechte Berichterstatter lieber sehen würde. Wenn er schreibt, dass Kellner-Azubis schneller ihre Ausbildung hinschmeißen als Bankkaufleute, dann zeigt das selbstverständlich die klassistische Lesart. Und wenn man sich dann vorstellt, dass der feine Zwirn in irgendeinem Neuköllner Establishment unterkommt und sich bedienen läßt, um dort gegen den sozialen Abfall des Bezirkes zu wettern, dann ist schon nachvollziehbar, warum man da nicht kellnern will. Man merkt als angehender Kellner recht schnell, wie ehrabschneidend so ein Job manchmal sein kann, wie schroff man von der Laufkundschaft abgetan wird - sicherlich auch von Bankkaufleuten, die in der Regel nicht erfahren, was Entwürdigung im Beruf bedeutet.
Dass Menschen an Orten wie Neukölln tatsächlich andere Normen besitzen, hat natürlich soziologisch begründbare Erklärungen. In einem Klima der Entwürdigung und der Mittelknappheit, mit der man als dortiger Bürger immer und immer wieder konfrontiert wird, entwickelt sich ein anderer Verhaltenskodex. Das hat nicht viel mit Faulheit zu tun, auch nicht mit fehlender Leistungsbereitschaft. Man wird für Entwürdigung nur dünnhäutiger, man schmeißt lieber hin; man ist nicht lethargisch, weil man müde, sondern vor allen Dingen, weil man abwägend, vorsichtig und misstrauisch geworden ist. Man hat Gesellschaft nie als Zusammenhalt, sondern immer nur als Krieg reicher Klassen gegen den eigenen Stand erlebt. Und dass der Chronist eine Kellner-Lehre als eine der großen Chancen ansieht, die die Gesellschaft seinen Neuköllnern bietet, sagt im Grunde alles. Kellnern als Berufung? Ausgerechnet in einer Branche, in der geringfügig und scheinselbständig gearbeitet wird, in der Qualifikation immer weniger gefragt wird! Und solche Chancen nicht zu ergreifen, wirft dieser Kerl den Menschen vor?
Chronisten wie er zeigen: die Soziologie als respektierte Wissenschaft ist wahrscheinlich gescheitert. An solchen und an einem breiten Publikum, bei dem er Zuspruch findet, weil er ein scheinbar schwärendes Gefühl bedient. Soziologische Zusammenhänge und Vernetzungen, dass Verhalten nicht einfach in der Gesellschaftsschicht ist, sondern gemacht wird, dass Dynamiken nicht frei wählbar entstehen, sondern durch gesellschaftliche Momente determiniert sind - all das ist als wissenschaftlicher Ansatz in einer Gesellschaft, die dem Bullshit frönt und dem Boulevard als Massenphänomen huldigt, famos gescheitert. Die Eigenverantwortlichkeits-Rhetorik der Marktradikalen, mit ihren Sentenzen, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, hat der Soziologie als Lehre von den Gefährten (lat. socius, der Gefährte), die um uns herum sind, das Wasser abgegraben. Neukölln wird somit nicht als (kommunal-)politisch vernachlässigter Ort wahrgenommen, der auf seine ganz eigentümliche Weise sozialisiert, sondern als ein Platz, an dem Menschen selbstbestimmt den Weg der Sozialhilfe, der Arbeitslosigkeit und falscher Moral- und Lebensvorstellungen wählen.
Diese offiziösen Chronisten unserer Zeit, die Einblicke nehmen in die Lebensrealität unterer Schichten, entfremden das Verständnis von Gesellschaft und der in ihr immanenten Prozesse von der soziologischen Wissenschaft. Sie karikieren ein Gesellschaftsverständnis, in dem Individuen unbeinflusst und unberührt von ihren jeweiligen Umfeldern Lebensentscheidungen treffen. Andere dieser Art erklären soziologische Sichtweisen insofern für überholt, dass sie Gene für verantwortlich küren. Schwarze Soziologie ist dabei als Begriff nicht mal zutreffend, denn es wird gar kein Bild von gesellschaftlichen und politisch konzipierten oder erzeugten Dynamiken entworfen, sondern die Vereinzelung sozialer Opfer betrieben. Dass es keine Gesellschaft gibt, nur Männer und Frauen, wie Thatcher mal meinte, prangt hier als Motto dieses Gesellschaftsbildes. Vielleicht haben sie diese Lehre vom Gefährten, vom Socius, einfach nur falsch gelesen und statt Gefährte Gefahr entziffert. Denn was hier chronologisch erfasst wird, ist tatsächlich mehr eine Lehre der Gefahr.
Die Soziologie dieses Neuköllner Menschen ist jedenfalls so eine Gefahrenlehre. Aufgebauscht und dramatisiert. Denn trotz dieses Abgesangs auf eine dringend benötigte soziologische Schau auf die gesellschaftlichen Strömungen und Ausformungen, so ist die deklarierte Leistungsverweigerung und Faulheit nur eine marginale Erscheinung. Von der Hälfte aller Leute Mitte zwanzig, die "bei ihm" im Hartz IV-Bezug stehen, dürfte die Mehrzahl händeringend nach Arbeit suchen oder teilweise sogar arbeiten und dennoch vom Jobcenter abhängig sein. Das schreibt der Chronist freilich nicht, denn das wäre das Eingeständnis des Scheiterns seiner politischen Klasse und letztlich auch die Beichte darüber, als Mitglied dieser ehrenwerten Klasse selbst gescheitert zu sein.

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