Brauchen wir ein Ende der Toleranz?

In einem bemerkenswerten Artikel in der Faz argumentiert Stefan Niggemeier, dass wir im aktuellen "Kulturkampf" um die Homosexualität ein Ende der Toleranz brauchen. Stattdessen plädiert er für den Begriff der Akzeptanz. Toleranz, so Niggemeier, schließe nämlich eine ständige Degradierung der nur "Tolerierten" ein. In einer Diskussion auf Twitter widersprach @freisatz dem vehement:
@StefanSasse @tobiasfuentes Vieles an dem Text ist sicher richtig. Anspruch auf Akzeptanz ist aber totalitär. — Robin S. (@freisatz) 17. Februar 2014
 
@freisatz @tobiasfuentes Anspruch, Akzeptanz nicht anzustreben, auch. — Stefan Sasse (@StefanSasse) 17. Februar 2014
 
@StefanSasse @tobiasfuentes Unsinn. Dieser „Anspruch” lässt ja explizit mehrere Positionen zu, ist also im Wortsinn gerade nicht total. — Robin S. (@freisatz) 17. Februar 2014
Und gerade hier liegt der große Denkfehler der Schlusstrich-Apologeten in der Debatte um die Toleranz oder Akzeptanz der Homosexualität.
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Es existiert kein Meinungsspektrum von gleichberechtigten Meinungen, die friedlich koexistieren können. Es gibt eben explizit nicht mehrere Positionen. Die Homosexuellen wollen Akzeptanz, und ihre Gegner wollen ihnen diese nicht geben. Gesteht man den Homophoben zu, offen homophob sein zu dürfen, entscheidet man sich gegen den Anspruch der Homosexuellen - und umgekehrt. So oder so, eine Bevölkerungsgruppe wird ihren Anspruch nicht durchsetzen können. Ich muss hier als Mitglied der Gesellschaft zwingend Position beziehen. Es gibt kein "Macht was ihr wollt" - das ist gleichbedeutend mit einer Parteinahme für die Homophoben. Das gleiche gilt auch analog für andere Bereiche: ein Jude kann nicht gleichberechtigter Staatsbürger und Mitbürger sein, wenn ich gleichzeitig offenen Antisemitismus erlaube. Eine Frau kann nicht einem Mann gleichgestellt sein, wenn ich gleichzeitig Diskriminierung gutheiße. Mit diesem Irrtum eng verbunden ist ein weiterer: Es gibt keine neutrale Weltsicht. Jede Weltsicht ist in irgendeiner Art und Weise ideologisch. Dazu kommt, dass Weltsichten nicht vom Himmel fallen. Sie sind soziale Konstruktionen, die entstehen, zur Mode werden, in Ungnade fallen, oft auch nie aus der Obskurität hervorkommen oder die Bande bestimmter gesellschaftlicher Schichten nie verlassen. Der Abschied von liebgewonnenen Weltbildern ist immer ein schmerzhafter, oft energisch bekämpfter, und genauso ist es beim Adaptieren von Neuen. Als Beispiel sei hier nur der lange, harte Kampf für die Gleichberechtigung der Frau erwähnt, der heute noch nicht abgeschlossen ist und seine Ursprünge mindestens bis ins 18. Jahrhundert verfolgen kann. Das bedeutet auch, dass der Wandel einer bestimmten Ansicht immer zu einem bestimmten Grad aufoktroyiert bleiben wird - und das meint die so oft beschworenen "Tabus" und "Denkverbote". Ohne diese wäre die völlige gesellschaftliche Ächtung des Antisemitismus in Deutschland nicht vorstellbar. Es war die forcierte Tabuisierung dieser zerstörerischen Denkrichtung, die von mittlerweile drei deutschen Generationen mit der Muttermilch aufgesogen wurde, die diese Ächtung so dominant machte. Dasselbe gilt für viele andere progressive Ziele: chauvinistische Witze und Verhaltensweisen sind inzwischen verpönt und waren es vor kurzem noch nicht, wie der Brüderle-Skandal um den #Aufschrei eindeutig bewies; die Überlegenheit von Demokratie und Rechtsstaat wurde durch Politikunterricht und Medien seit den 1950er Jahren in die Köpfe der Deutschen gehämmert, und so weiter, und so fort. Ohne diese Mechanismen können solche Verschiebungen überhaupt nicht stattfinden. Das heißt: ja, es gibt Tabus. Ja, es gibt "Denkverbote". Es hat sie immer gegeben, es wird sie immer geben. Sie definieren, was "Mitte" ist und was "Rand". Sie sind einem beständigen Wandel unterworfen. Es gibt immer wieder Streit um sie, Herausforderungen, Änderungen und Verwerfungen. Auch das gehört zu einer Gesellschaft hinzu. Zu behaupten, wir müssten nur jeden machen lassen, was er oder sie machen wollen, ist intellektuell unaufrichtig. Denn das stützt immer den Status Quo.

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