Anne Frank: In Amerika stark kritisiert

Anne Frank Statue in Utrecht – © Marco Nijland, CC BY-NC-SA 3.0

Anne Frank Statue in Utrecht – © Marco Nijland, CC BY-NC-SA 3.0

„Das Tagebuch der Anne Frank ist Symbol und Dokument zugleich. Symbol für den Völkermord an den Juden durch die Nazi-Verbrecher und Dokument der Lebenswelt einer ein­zig­ar­tig begab­ten jun­gen Schriftstellerin.“ So steht es auf dem Buchrücken mei­ner ein­fa­chen Taschenbuchausgabe. Jetzt wurde bekannt, dass eine besorgte Mutter in den USA Anne Franks Werk „por­no­gra­fisch“ fin­det. 

Das Tagebuch der Anne Frank gilt als gro­ßes lite­ra­ri­sches Werk.

Bezüglich Anne Franks Schreibstil äußerte der Dramaturg Meyer Levin, der mit Otto Frank kurz nach der Veröffentlichung an einer dra­ma­tur­gi­schen Umsetzung des Tagebuchs arbei­tete, dass das Tagebuch „die Spannung eines gut kon­stru­ier­ten Romans erhält“. (Wikipedia)

Vor allem gilt es als ein­zig­ar­ti­ger Coming-of-Age-Roman, als authen­ti­sche Schilderung des Erwachsenwerdens einer jun­gen Frau unter bei­spiel­los beeng­ten, und dadurch beson­ders dra­ma­ti­schen Umständen, immer unter dem Damoklesschwert der Entdeckung, das schließ­lich am 4. August 1944 tat­säch­lich fällt. Anne Frank wurde keine 16 Jahre alt.

Der Dichter John Berryman schrieb, es sei eine ein­zig­ar­tige Beschreibung „des mys­te­riö­sen, fun­da­men­ta­len Prozesses, bei dem ein Kind zum Erwachsenen wird, wie es wirk­lich pas­siert“. Die Biografin Melissa Müller hob her­vor, Anne schreibe „in einem prä­zi­sen, siche­ren, öko­no­mi­schen Stil, des­sen Ehrlichkeit ver­blüfft“. (Wikipedia)

annefrankfischerEs sind die außer­ge­wöhn­li­chen, tra­gi­schen Umstände ihres Lebens und Sterbens, die das Tagebuch der Anne Frank zu dem ein­zig­ar­ti­gen Zeitdokument machen, als das es gilt. Als Symbol für die Verfolgung und Vernichtung der Juden Europas ist das Tagebuch vor allem ein lite­ra­ri­sches Mahnmal. Als sol­ches wird es auch immer wie­der von Rechtsradikalen geschän­det:ange­zwei­felt, ver­höhnt und ver­brannt.

Aber nicht nur Rechtsradikale gehen gegen das Buch vor. Jetzt hat sich die Mutter einer Schülerin der 7. Klasse dar­über beschwert, dass einige Passagen der in der Schule gele­se­nen Ausgabe des Tagebuchs der Anne Frank zu expli­zit, ja gera­dezu por­no­gra­fisch seien:

It’s pretty gra­phic, and it’s pretty por­no­gra­phic for seventh-grade boys and girls to be rea­ding.

Anne Frank por­no­gra­fisch? Der Vorwurf ist nicht neu: Bereits 2010 hat eine Schule in Virginia das Monument zen­siert. Zu den ange­mahn­ten „Stellen“ gehö­ren wohl auch die vom 24. März 1944. Ein Auszug:

Bevor ich elf oder zwölf Jahre alt war, wußte ich nicht mal, daß es auch noch die inne­ren Schamlippen gab, die waren über­haupt nicht zu sehen. Und das Schönste war, daß ich dachte, der Urin käme aus dem Kitzler. Als ich Mutter ein­mal fragte, was die­ser Stumpen bedeu­tet, sagte sie, daß sie das nicht wüßte. Die stel­len sich immer so dumm! [...]

Von vorn siehst du, wenn du stehst, nur Haare. Zwischen den Beinen sind eine Art Kissen, wei­che Dinger, auch mit Haaren, die beim Stehen anein­an­der­lie­gen. Man kann das, was drin­nen ist, dann nicht sehen. Wenn du dich setzt, spal­ten sie sich aus­ein­an­der, und innen sieht es sehr rot und häß­lich flei­schig aus. Am obe­ren Teil, zwi­schen den gro­ßen Schamlippen, ist eine Hautfalte, die bei nähe­rer Betrachtung eigent­lich eine Art Bläschen ist. Das ist der Kitzler.

Die kri­ti­sierte Ausgabe des Tagebuchs heißt The Diary of a Young Girl: Anne Frank (The Definitive Edition). Auch meine ein­fa­che Taschenbuchausgabe ent­hält die „por­no­gra­fi­schen“ Stellen. In der Einleitung lese ich auf Seite 6:

Als das Buch 1947 in den Niederlanden erschien, war es noch nicht üblich, unge­zwun­gen über sexu­elle Themen zu schrei­ben, beson­ders nicht in Jugendbüchern.

Nein, ich wun­dere mich nicht, dass eine große Subkultur in den USA immer noch in die­ser geis­ti­gen Enge von 1947 lebt, und ich könnte das Ganze auch ein­fach mit einem Achselzucken abtun. Aber hier geht mir diese ein­fäl­tige, bigotte, puri­ta­ni­sche Schamradikalität zu weit, hier gerät sie zur Pietätlosigkeit.

Diese Leute soll­ten ihre Prioritäten neu ord­nen! Wer reif genug ist, etwas dar­über zu erfah­ren, wie gna­den­los Menschen andere Menschen töten kön­nen, sollte auch in der Lage sein, damit umzu­ge­hen, wenn eine junge Frau ihre Genitalien beschreibt.

Natürlich gibt es nicht „die Amerikaner“, und auch außer­halb der USA gibt es genü­gend Leute, die so den­ken. Aber in den USA nimmt schon seit eini­ger Zeit eine bigotte Sexualfeindschaft hys­te­ri­sche Züge an. Ein Wort wie „Nipplegate“ kann dort allen Ernstes Karriere machen, und tabu sind nicht mehr nur im enge­ren Sinne vul­gäre Bezeichnungen für Genitalien wie „cunt“ (eines der „seven words you can’t say on tele­vi­sion“ von George Carlin), son­dern auch völ­lig neu­trale Wörter wie „vagina“. In die­sem Land ist nicht nur die „Beschneidung“ männ­li­cher Kinder heute noch akzep­tierte Praxis – eine Praxis, die ein­ge­führt wurde, um die Masturbation zu ver­hin­dern  – in die­sem Land wurde auch die „Beschneidung“ von Mädchen bis in die 1970er Jahre hin­ein prak­ti­ziert, erst 1977 von der letz­ten Krankenversicherung aus dem Leistungskatalog genom­men und erst 1996 ver­bo­ten.

Ein ver­ant­wort­li­cher Beamter in Virginia ver­tei­digte 2010 die Entscheidung zur Zensur des Tagebuchs der Anne Frank so:

Der Kern der Geschichte, der Kampf eines jun­gen Mädchens gegen schreck­li­che Grausamkeiten, geht nicht ver­lo­ren, weil ein paar Seiten über­ar­bei­tet wur­den, die die jugend­li­che Wahrnehmung inti­mer Themen beinhal­ten.

Warum ist diese Geschichte über­haupt päd­ago­gisch wert­voll? Was ist die­ser „Kern der Geschichte“? Sicher nicht „der Kampf eines jun­gen Mädchens“, denn Anne Frank hat im eigent­li­chen Sinn nicht gekämpft, sie hat sich ver­steckt. Als Anne Frank sich ver­steckt hielt und schrieb, deu­tete nichts dar­auf hin, dass sie ein­mal zu einem Symbol wer­den würde. Ihr Vater Otto Frank zeigte sich nach der Lektüre ihres Tagebuchs, von dem er nichts wusste, erstaunt: „Ich wusste gar nicht, dass meine kleine Anne so tief war.“ Sie war eben nie­mand Besonderes, son­dern ein ganz nor­ma­les Mädchen, die in die­ser Zeit wie unzäh­lige andere Menschen, jung oder alt, um ihr Über­le­ben bangte. Je mehr sich jugend­li­che Leser in Anne Frank hin­ein­ver­set­zen kön­nen, desto mehr wer­den sie erah­nen kön­nen, wie es war, in stän­di­ger Todesangst zu leben. Und sie kön­nen sich umso bes­ser in sie hin­ein­ver­set­zen, je mehr sie mit ihr gemein­sam haben. Das sind weder Heroismus noch schrift­stel­le­ri­sches Talent, das sind aber ihre all­täg­li­chen Sorgen und Nöte, die Konflikte mit den Eltern – und das allen Jugendlichen gemein­same Interesse an ihrer erwa­chen­den Sexualität. Das ver­bin­det sie mit allen ande­ren jun­gen Menschen damals und heute und zu allen Zeiten. Und inso­fern ist Anne Franks Tagebuch päd­ago­gisch wert­voll. Daher ist der „Kern der Geschichte“ eben ihre Authentizität und ihre Alltäglichkeit. Und dann wird es letz­ten Endes doch wich­tig, wenn sie über ihren eige­nen Körper reflek­tiert.

Aber die Verfechter der Scham möch­ten ver­hin­dern, dass ihre Kinder erfah­ren, wie Anne Frank ihre Genitalien ent­deckt hat. Womöglich haben Sie Angst davor, dass sie auf die Idee kom­men könn­ten, ihre eige­nen Genitalien zu erfor­schen. Das wäre ein ers­ter Schritt hin zu den gefürch­te­ten „Gateway Sexual Activities“, einer Klasse von Handlungen, an denen Jugendliche nach der bigot­ten Logik der „Abstinence-only“-Lehre unbe­dingt zu hin­dern sind.

So erfah­ren die Kinder der Schamradikalen in der unzen­sier­ten, defi­ni­ti­ven Version eine wei­tere Gemeinsamkeit mit Anne Frank. Auch sie erhielt von ihren Eltern offen­bar keine Antwort auf ihre Fragen zu den sexu­el­len Aspekten ihrer Anatomie:

Als ich Mutter ein­mal fragte, was die­ser Stumpen bedeu­tet, sagte sie, daß sie das nicht wüßte. Die stel­len sich immer so dumm!

Harald Stücker


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