81. Musiker sind die besseren Dichter geworden

1980 erscheint eine erste Sammlung englischer Punk-Songtexte mit deutschen Übersetzungen, I Hate The Universe, herausgegeben von Sylvia James *3), darunter Killing An Arab von Cure, eine Aufarbeitung von Albert Camus’ Der Fremde. Camus, so scheint es, liegt mit seinen Sätzen von der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt hochaktuell in den jungen achtziger Jahren.

Zu den Hauptausfuhrgütern von Graz gehören hochwertige Schriftsteller. Wirkungsvollster Exportanreiz ist die Grazer Autorenversammlung, zu deren jährlichen Litertursymposien sich die feuilletonangebende deutschsprachige Gegenwartsliteratur einfindet. Die Literatur, die im Versammlungsblatt manuskripte *4) (und nicht nur dort) das Wort hat, erscheint zunehmend als eine ausgewogene Mischung von vorgezogenem Altersschwachsinn – die für Weisheit genommen wird –, angestrengter Humorlosigkeit und versponnen in sich kreisenden Sprachbespiegelungen.

(…)

Ich lese Gedichte von Patti Smith, Der siebente Himmel. Sie stehen wie geflüsterte Schreie ohne Musik auf dem Papier, und nur manchmal klingt es laut auf, … es gibt niemanden, es ist sinnlos, weiter zu suchen, du bist es, du bist es ...

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Auch in den Gedichten des Hamburgers Kiev Stingl, Flacker in der Pfote *6), findet er sich: der Tonfall, der angeht. Umgangston, aber nicht umgänglich, nicht naturalistisch ›dem Volks aufs Maul geschaut‹, sondern eine schrille, alltägliche Künstlichkeit. Und rabiat, direkt. Pornonichts, und Gimmie some Volt, Mista Arbeiter. Auch Stingls Texte verlangen geradezu nach Musik. Sie lösen Bewegung aus; aber zu einem Buch kann man nicht tanzen. Wir wollen etwas, das losgeht, das auch fetzt, das reinhaut. Die Gegenwartsliteratur ist langweilig, kriege ich rundherum zu hören. Wenn ich im Ratinger Hof, der Düsseldorfer Neue Deutsche Welle-Brutstätte, schreie: »Literatur!«, rennen mehr Leute weg, als wenn ich »Polizei!« schreie. Vielen Jungen erscheint das Erlebnis Literatur heute als ›falsche Bewegung‹, und die zum Lesen erforderliche Beruhigung und monologische Gefaßtheit hat den Beigeschmack freiwilliger Lahmarschigkeit.

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Gegenüber vielen, was Musiker nun texten, erscheint das meiste an mit poetischen Verfahren gewonnener Gemessenheit, alle profunde Schwebe und Widersprüchen, alle subtile und detailscharfe Wesensdurchdringung und sehnsuchtsbestärkende Zukunftsmächtigkeit oder kritisch gewichtete Enthüllung als Euphemismus und Erektion wohlgestalteter Unerfülltheit. Es scheint, als schlüge die Literatur sich mit ihrer eigenen Gesetztheit k.o.

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Man könnte noch Anmerkungen machen zu einer neuen Grammatik des Widerstandes, die sich in vielen der Texte abzeichnet. Sie hat viel zu tun mit dem blitzlichtenden und widerhakenschlauen Charakter von Slogans und ›Rabiatements‹. Aber ich will den Germanisten nicht den Eisschrank ausräumen. Wenn ich Hundert Mann und ein Befehl in der Fassung von ZK höre – klingt wie Freddy Quinn mit Außenbordmotor – oder Palais Schaumburg, Ich glaub ich bin ein Telefon / romantisches kleines Telefon / Ich glaub ich bin ein Blumenhalter / romantischer kleiner Blumenhalter … (Holger Hiller, Telefon), dann kommt ganz anderes auf als Bedarf nach Wissenschaftlichkeit.

Ich komme Ende 1980 zu dem Schluß: Die Musiker sind die besseren Dichter geworden. (…)

Was meine Identität als Schriftsteller angeht, halte ich mich inzwischen an die Warnschilder in der Straßenbahn: bitte denken Sie an die Möglichkeit einer Notbremsung, benutzen Sie daher die Haltegriffe. Trotzdem bin ich besessen von der Idee, Mein eigenes in der Poesie zu finden. Seine Ruhe sollte Manneskraft sein, und seine Einfachheit ein Gegensatz zu der Gespreiztheit und zu dem Verfalle, dem unsere Dichtkunst zugeht. (Adalbert Stifter) Wer heute noch starke Lyrik machen will, möchte sich doch zuvor eine der Scheiben aus dem hier behandelten Zeitraum auflegen und sich anschließend eine abschneiden.

/ Peter Glaser, Kulturnotizen



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