127. In den Wörtern Beziehungen

Essay von Bertram Reinecke über ein Gedicht von Johanna Schwedes

Johanna Schwedes
Besuch

ein großfüßiger Dickhäuter
so schlich ich mich zum Tee
der Kiessaum am Weg aber
brannte und züngelte
mir um jeden Zeh

Meisen hielten den Garten in Schach
und seine Käferschluchten
legten dir Pfade in den Mund
chitinrot

Worte ganz Käferspelzen
krochen über den Lippenpelz uns
war nicht ganz wohl mit gerunzelten Brauen
und gelbzähnigem Lächeln
vertriebst du die Meisen
die mir um die Zehen kitzelten raunend:
ruckedigu, ruckedigu …

(Der Essay steht vollständig im Poetenladen, das Gedicht in Johanna Schwedes: Den Mond unterm Arm. Leipzig: Reinecke & Voß 2010)

Auszüge:

1.

Zunächst der Titel, schlicht und anspruchslos, ohne poetisches Spiel. Man kann sich vorstellen, wie die Autorin unter dem Arbeitstitel „Besuch“ versucht ihre Gedanken und Innerungen zu einer singulären Erfahrung zu ordnen. Ein Arbeitstitel eher, ein Arbeitstitel aber auch in anderer Hinsicht. Er verrichtet Arbeit, stellt Beziehung her. Kann man unter einem poetisch schillernden Titel oft nicht mehr erinnern, auf welchen Text sich die schillernde Wortgruppe bezieht, leistet dieser Titel Merkhilfe bei der Bezugnahme, so wie ein Schild auf einer Werkstattschublade: „Schrauben“. Titel, die Gattungen und Themen aufzeigen, sind aus der Mode gekommen, die Tradition kennt sie aber gut.1

Das Gedicht hat also ein Thema, will uns etwas über einen Besuch erzählen, ein Erzählgedicht. Aber es geht anders vor als üblich. Oft versuchen solche Texte eine dem Leser bekannte Situation aufzurufen (als Kind hinten im Auto, allein im Schulflur, zu zweit im Bett). Mit solchen quasi anskizzierten Mythen wird versucht, im Leser Erinnerungen wachzurufen, die er dann zum vertieften Empfinden des Gedichts in die Lektüre einbringen kann. Dies Gedicht verzichtet auf solch einen On-Knopf für die poetische Energieversorgung, sondern geht autark das Wagnis ein, im ungesicherten Raum zu sprechen. Ein ähnlicher Mut dieses Textes liegt im Verzicht auf sozusagen historische Details (Lada, die entgegenkommen, Wandzeitung, das Nachtlicht in den Rollolamellen). Im Gegensatz zu der Mehrzahl anderer Erzählgedichte bleibt er konzentriert auf die sprachliche Verarbeitung des Ereignisses.

Auf den ersten Blick scheint sich das Gedicht auf sein resonantes Vokabular verlassen zu wollen: Nimm große Worte und der Leser wird sich schon irgend etwas Tiefes dabei denken. Aber was denkt man eigentlich bei „chitinrot“, was bei „ruckedigu“? Ersteres hat gar keinen Sinn, sondern der Sinn muss erst vom Gedicht erfunden werden und existiert erst in diesem. Das zweite Wort schafft keine schillernde Aura um den Text. Vielmehr gerät der Leser tiefer hinein in das vom Gedicht Verhandelte, wenn er den Bedeutungsschichten des Wortes nachhängt. Aber langsam:

Wer nicht akzeptiert, dass gute Dichtung eben ihr Geheimnis habe, muss sich auf die Kleinteiligkeit einer Analyse einlassen. Schon die erste Zeile hat es in sich: „Ein großfüßiger Dickhäuter“, vor der Hand eine schlichte Bezeichnung, arbeitet auf vielfältige Weise am Diskurs des Gedichtes mit. Man kann sie in Einzelteilen verstehen (sensu diviso): jemand, der großfüßig (plump) und dickhäutig (unsensibel) ist. Man kann sie aber auch zusammen (sensu composito) auffassen: Ein Elefant, der sich in der nächsten Zeile als ziemlich deplatziert erweist, indem er tut, was Elefanten nicht tun (sollten? Sich zum Porzellan? begeben, das man nicht zerschlagen sollte?). Im Text herrscht eine serengetihafte Artenvielfalt, auch wird Hitze evoziert, und wie hießen die kleinen Vögel doch, die um die Elefanten herum ihr Futter picken? Ob Dickhäuter, ob Elefant, er schleicht und zwar: so. Es scheint auch anders zu gehen? „Tee“ wird getrunken, auch das setzt äußerst ökonomisch einen Marker. Denn außer in Ostfriesland sind es, in Deutschland zumindest, ganz bestimmte Leute, die nicht zum Kaffee laden.

Kein Wunder, dass die Deutung zweier Zeilen schon doppelt so viele Buchstaben braucht wie das ganze Gedicht: Das Geheimnis der Dichtung besteht, wenn es eines gibt, sicher darin, etwas, was in ermüdenden Abhandlungen niemanden interessiert, charmant und schnell in wenigen Worten zu sagen, die betroffen machen.2

1Das bekannte Beispiel von Goethe ist besonders bezeichnend für diese Tradition und ihr Verschwinden. Der „Ein Gleiches“ überschriebene Text heißt ja nur so, weil es sich wie beim Text auf der Nebenseite um ein „Wanderers Nachtlied“ handelt. Wer ihn unter der Überschrift der Ausgabe zitiert oder aufführt, erfindet neuen Text statt, wie er meint, philologische Genauigkeit walten zu lassen.

2Auf eine andere Weise ist dies doch das Zugeständnis, dass ein Gedicht „sagt, was sich anders nicht sagen lässt“. Niemand kann die Gottesperspektive einnehmen, zu entscheiden, ob die Analyse eines Gedichtes nun wirklich das Gleiche aussagt, ob und wie weit man von atmosphärischen Momenten (wie Spannung des Gedichtes /Langeweile der Analyse) absehen kann, oder ob und wie weit diese Momente nicht ebenfalls sinnkonstitutiv wirksam werden. So hat man nie ein Kriterium, endgültig widersprechen zu können, wenn jemand sich darauf versteift, dass das Gedicht aber etwas sage, was die Analyse unterschlägt.

2.

Diese Sichtweise führt uns, nachdem wir das Gedicht durchtaucht haben, zurück zu dem bereits am Beginn des Gedichtes eingenommenen Standpunkt: Eine solche Probe lässt sich mit Proben von anderswo vergleichen.

Diese These wäre allerdings zu rechtfertigen, denn Dichter wie Ulf Stolterfoht unterscheiden streng zwischen Gedichten, die in der dargestellten Weise Proben sind, und solchen, die einen singulären Sinn anstreben (und welcher, allerdings nur mehr oder weniger singuläre Sinn, dies bei diesem Gedicht sein könnte, hatte ich versucht aufzuzeigen). „Gedichte, die uns solchen vermitteln wollen … sind auf seltsame Art sprachlos. Indem sie nämlich auf die Unmittelbarkeit des zentralen Bildes, eben der Epiphanie, vertrauen, und sei sie [sic] sprachlich noch so kunstvoll geformt, haben sie die Lyrik längst in Richtung bildender Kunst verlassen“, so seine heftig angegriffene Diagnose.1

Es lässt sich allerdings zeigen, dass der vorliegende Text, wie stark er auf Sinn auch abzielen mag, die Sprache nicht in Richtung der bildenden Kunst verlässt. Bilder mögen aufblitzen, aber wer versucht, das zentrale Bild, die Epiphanie, zu identifizieren, auf dem die Evidenz des Textes beruhen könnte, wird nichts finden. Jedes Bild rutscht sofort hinüber in etwas anderes, vielleicht Allegorisches. In anderen Fällen ist die metaphorische Komponente bildlich nicht darstellbar. Das gilt für solche Wendungen, wo der veränderte Sinn unmittelbar vom Zitatcharakter der Wendung abhängt, wie bei „ruckedigu“, das gilt für solche Bilder, die die Dichterin selbst herstellt, ebenso: Sitzen sich im Gedicht zwei Menschen an einem Tisch gegenüber? Oder streichelt der eine gar dem anderen die Füße? Man kann seine Lektüre von Vorstellungen begleiten lassen, sie mögen das Gedichterlebnis vertiefen, konstitutiv für den Text sind diese Vorstellungen nicht. Noch deutlicher wird das an anderen Stellen: „Käferspelzen“ wiewohl mit ziemlicher Sicherheit eine Metapher, kann man nicht abbilden, selbst nicht mit ausgefeilter Computergrafik: Wir wissen zwar, wie Spelzen aussehen. Eine Käferspelze im Bild würde im Gegensatz zu einem Käfer im Bild für uns jedoch immer aussehen wie eben ein anderer Käfer (oder andere Käferteile).2

Auf die gleiche Art metaphorisch ohne Bild funktioniert das Wort „chitinrot“, denn welche Farbe ist überhaupt gemeint?3

Die sprachliche Arbeit dominiert hier also zumindest den durch Bilder hineingetragenen Sinn deutlich. Im Sinne Stolterfohts also ein Text, der mangels eines besseren Wortes sich in die Tradition des experimentellen Textes stellen lässt. Er ist wie gezeigt risikobereit und nicht ohne Schroffheiten.4

Fahren wir im Vergleichen unserer Sprachprobe fort, dann stellt sich heraus, dass der vorgestellte Text um einiges suggestiver und plausibel auch für einen weniger geübten Leser ist, als man das von anderen Texten der Tradition sagen kann, in die wir ihn soeben gestellt haben. (Stolterfoht nennt Kling, Bayer usw.) So legt sich ein Verdacht nahe: Wird hier nicht mit (zu) gängiger Münze bezahlt?

Johanna Schwedes nutzt Münzen, die in Umlauf sind, sie nutzt Symbole, die durch die Tradition (schon im Kinderzimmer) Bedeutung erlangt haben, kommt also von einer Utopie der Anwesenheit von Sinn her, mit dem dann nur noch gerungen werden kann oder muss, während die von Bense, Stolterfoht und Co. präferierte Rede von einem Sinn, der erst konstituiert werden muss, eine Utopie der Abwesenheit verkörpert.

1BELLA triste 17 S.189 ff.

2 Dieses Stilmittel ist Programm „mit Augen aus Zelluloid“ heißt es etwa ihrem Text „Warschauer Straße“

3 Auch hier lassen sich Gegenstücke auffinden. Auch „todesrot“ im Text „Märchen“ ist so eine seltsame Unfarbe, auch wenn sie sich hier entschlüsselt als irgendetwas Apfel- und gleichzeitig Blutrotes. Der Bau ist hier nicht ganz so konsequent, benutzt der Text doch hier (noch?) eine lautlich plausibilisierende Stütze „Todesnot“

4 Eine weitere Schroffheit wäre das „ruckedigu“, hier als Terminus der Märchensprache verwendet, wiewohl das Gurren anwesend bleiben dürfte. Wer das Wort noch als onomatopoetische Bezeichnung für den Laut der Taube kennt, wird dies als Härte empfinden. Eine solche Kinderstube, in der ein starkes Interesse für Tiere ausgeprägt wurde, gepaart mit einem falschen pädagogischen Verständnis von Kindgerechtigkeit: „Schau, ein Wauwau!“ dürfte allerdings in unserer urbanen Welt im Aussterben begriffen sein.

Einzugehen wäre ebenfalls noch auf Schwedes` Mut zu Neologismen, die allerdings niemals zu viel Ballast tragen, nie eine sinnhuberische Schwere erlangen.

3.

Um es hier am Beispiel zu verdeutlichen: „Worte ganz Käferspelzen/ krochen über den Lippenpelz uns“ heißt es in Strophe 3. Die Worte werden „ganz“ mit Käferspelzen gleichgesetzt. Käferspelzen sind im Gegensatz zu Käfern und im Gegensatz zu Samen etwas Abgelebtes, Passives. Das aufgerichtete Paradigma würde also Verben wie „gleiten“ oder „rutschen“ erfordern. Im Gegensatz dazu betont „kriechen“ den aktiven Aspekt, während das „Tertium Comparationis“ (Verb der Bewegung) das paradigmatisch geforderte Verb anwesend hält.1 So erweist sich das im Gedicht geschilderte Tun als in gleicher Weise schuldhaft wie unwillkürlich. (Denn die Worte tun es ja selbst.) Die ebenfalls im Verb anwesende Metapher, die eine gewisse Langsamkeit und Beschwerlichkeit des Vorgangs betont, tritt hinter diesem Effekt etwas zurück.Solcher Verbgebrauch verleiht der Objektwelt ein unberechenbares Doppelleben.

Man kann Erzählgedichte nach der Allgemeinheitsstruktur dieses dinglichen Vokabulars untersuchen. Grob seien die Substantive zu diesem Zweck in drei Gruppen von Bedeutungszeichen geteilt2, die Abstrakta (Traurigkeit), die Konkreta (Vakuumisolierglas) und eine große Gruppe, die irgendwo dazwischen liegt. Aus dieser Gruppe stammen bei den meisten Dichtern die wichtigsten Gedichtwörter3. Erzählgedichte schöpfen ihren Fundus oft genau in der Mitte, aus Wörtern also, die zwar noch Konkretes bedeuten, die aber fest mit abstrakten Inhalten verbunden sind (Straße, Baum, Tisch, Fenster, Hund usw.4). Erzähldichter, die ihr Metier beherrschen, verfügen oft dazu über eine zweite Schicht von Vokabular. Dies sind Konkreta, gerne als Kompositum, die vor allem herangezogen werden, um die Epiphanie des Gedichtes, das Bild oder was auch immer durch Details der Außenwelt zu beglaubigen (Klappmatratze, Wäscheleine,Königstein, Federbetten, Seitenscheibeusw.). Johanna Schwedes, die aus ihren Komposita nicht eine solche zweite Achse des Bedeutens herstellt, verrückt dafür ihre Halbabstrakta immer etwas weiter ins Konkrete. Selbst wenn diese Begriffe dann als Symbole mitgenutzt werden, heißen ja ihre Gegenstände verhältnismäßig selten „Besuch“, „Garten“ oder „Lächeln“, manch anderer verbraucht drei davon auf eine Zeile.5

Und ganz so, wie ich am Anfang um der Deutlichkeit willen behaupten musste, verhält es sich mit dem Titel vielleicht gar nicht: Wann gebrauchen wir das Wort „Besuch“? Ich meine zu spüren, dass eine alltagssprachliche Verwendung wie „Ich bekomme Freitag Besuch von …“ leichter ist, Allgemeineres sagt, als eine wie „Ich fahre auf Besuch zu …“. Während die Erste sagt, dass eben der und der (vielleicht ein paar Tage) kommt, scheint die zweite Formulierung auf das „wie“ dieses Vorgangs besonderen Wert zu legen. „Ich fahre zu meinem Vater, aber nicht weil ich sein Kind bin, sondern weil ich ihn bloß besuche.“ Die Verwendung des Substantivs mit direktem Bezug auf den jeweiligen Sprecher scheint insgeheim immer auf ein Auseinanderlaufen von Weltverständnissen hinzudeuten. „Ich bin der Besuch …“, wie es ja das Gedicht sagt, sagt man zum Beispiel rechtfertigend dann, wenn man eines Bekannten Wohnungstür mit dessen Schlüssel öffnet und der wachsame Nachbar kritisch schaut.

Die kraftvollen Ambivalenzen des Gedichts verschieben also auch schon ihre scheinbar so schlichte Überschrift. Die Worte bedeuten zunächst im Textdiskurs und nur wie aus alter Gewohnheit darüber hinaus.

1 .Wäre es etwa mit „griffen“ weiter gegangen, wäre dies nicht der Fall.

2 Auch bei anderen Wortarten kann man bei Johanna Schwedes Entdeckungen machen. Verhältnismäßig öfter als andere neuere Erzähldichter stehen bei ihr am Versende auch dann sinntragende Wörter und nicht grammatische Scharniere (und, aber), wenn ein Enjambement erzielt wird usw., Verbreiteter ist ihre Art ein Personalpronomen („uns“ Strophe 3) gleichzeitig als Objekt des einen und als Subjekt eines anderen Teilsatzes zu benutzen.

3 Während die Abstrakta ein so großes Können erfordern, dass die meisten Anfänger gerade über sie stolpern und die sehr konkreten Wörter vor allem von Spezialisten eingesetzt werden. So weit, so grob.

4 Nicht zufällig bestehen wohl die Einträge von populärwissenschaftlichen Traumdeutungslexika aus solchen Wörtern. Zu Meise findet ich keinen Text und Käfer werden auch lediglich beim allgemeineren Insektenartikel erwähnt. (Nachgeschlagen in: Doucet, Friedrich W.: Das große Buch der Traumdeutung, Gondrom Bindlach 1992)

5 Ich vermute, dass diese Verschiebung ihr trotz aller Ambivalenz die Möglichkeit eröffnet, ihren Gedichten einen greifbaren diskursiven Kern zu verleihen.



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