Zwischen Markenkernen und Zeítgeistern

Von Stefan Sasse
Die CDU ist nun also für Mindestlöhne. Nein halt, nicht Mindestlöhne, branchenbezogene Lohnuntergrenzen. Oder ist der Begriff doch ein anderer? "Nicht gesetzlich festgelegte", aber doch irgendwie "verbindliche Lohnuntergrenzen in Branchen ohne Tarifvertrag"? Vielleicht doch nur eine genauere Definition dessen, was ein "sittenwidriger Lohn" ist, wie die Losung noch vor Jahresfrist lautete? Unsinn. Die CDU ist für Mindestlöhne. Dass sie nicht die Mindestlöhne fordert, wie sie die LINKE oder die Gewerkschaften gerne sehen würden - geschenkt, das hat auch niemand erwartet. Der Weg ist das Ziel, und in diesem Fall ist er von erheblicher Bedeutung: In den Kommentarspalten aller großen Zeitungen wurde die Frage aufgeworfen, ob die CDU mit ihrem ständigen Aufgeben von Markenkernen nicht irgendwann zu krasse Kehrtwendungen vollziehe. Familienpolitik, Atomausstiegsausstiegausstieg, Euro-Rettung, jetzt der Mindestlohn. Das Leipziger Programm der CDU ist durch die jüngste Wende endgültig beerdigt. 2003 auf dem Höhepunkt der neoliberalen Revolution verabschiedet war es eigentlich schon immer eine Totgeburt. Sein formales Ende mit der Mindestlohnwende ist kein Entkernen der CDU, es ist vielmehr die Rückkehr zu einem solchen. 
Das Leipziger Programm und vergleichbare Ideen waren in Deutschland nie mehrheitsfähig. Die Proteste gegen Hartz-IV und die Wahlergebnisse der SPD sind dafür ein deutliches Zeichen. Die Stimmenanteile der FDP 2009, ich habe das wiederholt postuliert, waren keine Zustimmung zu dem dünnen Programm-Ersatz "Steuersenkungen" oder der in der Oppositionszeit vertretenen Grundsätze, sie waren eine Protestwahl aus Verdruss über die Große Koalition und die Alternativlosigkeit. Das zu verkennen und tatsächlich einen Wählerauftrag für Steuersenkungen zu konstruieren war der größte Fehler der FDP, der sie nun in ihrer Existenz so sehr bedroht. Es war politische Instinktlosigkeit von apokalyptischen Ausmaßen. 
Genau das kann man Merkel nicht vorwerfen. Sie hat die Zeichen der Zeit erspürt. Die Zeit, in der jüngst eine absurde Lobhudelei über Müntefering erschien, verkennt dies ebenfalls, wenn sie Merkel als von der SPD gegen ihre Überzeugungen in Richtung Soziale Marktwirtschaft getrieben sah, nur weil Müntefering branchenbezogene Mindestlöhne durchsetzte. Merkel muss bereits damals gespürt haben, woher der Wind wehte, und dass sie eine Neuauflage der Großen Koalition vor Schwarz-Gelb bevorzugt hätte ist ein offenes Geheimnis. Oder hält es jemand für Zufall, dass sie wesentlich erfolgreocher agiert seit ihre Koalition die Bundesratsmehrheit verloren hat und auf die Kooperation mit SPD und Grünen angewiesen ist? Niemand kommt in dem Spiel des Strippenziehens hinter den Kulissen gegen sie an. Der falsche Stolz der SPD, in der Großen Koalition irgendwelche sozialen Wohltaten gegen Merkels Widerstand errungen zu haben ist fehl am Platz. Die Früchte erntet Merkel; das Narrativ von der "Sozialdemokratisierung der CDU", das Albrecht Müller nicht zu Unrecht unermüdlich als mediale Konstruktion angreift, ist lediglich der Hebel, den Merkel billig gegen ihre eigene Partei verwenden konnte. 
Der eingebildete Markenkern der CDU "Ablehnung von Mindestlöhnen" existiert nämlich hauptsächlich in den Stuben von Leitartikelern und im Fraktionssaal. Es ist der in der letzten Dekade so einflussreiche neoliberale Flügel (gerne "Wirtschaftsflügel" genannt, was eine sehr clevere, weil positive, Zuschreibung ist), der Probleme mit dieser Politik hatte, nicht der marginalisierte "linke" Flügel der CDU. Der wittert jetzt Frühlingsluft; Norbert Blüm scharrt wahrscheinlich schon ungeduldig mit den Füßen. Es sind diese Leute, die glaubten, die CDU werde gewählt, weil sie für Atomkraft und gegen den Mindestlohn sei. Das aber ist Unsinn. Den Status als letzte Volkspartei erhielt sich die CDU gerade trotz dieser "Markenkerne", nicht wegen ihnen. Die CDU war nie eine programmatische Partei. Markenkerne hatte die Sozialdemokratie, bevor sie radikal mit ihnen brach, haben die Grünen, hätte gerne die LINKE. Die CDU hat eine Konstante, und genau das ist die Konstante, für die sie seit Jahrzehnten in die Regierungsverantwortung gewählt wird. 
Diese Konstante ist "Pragmatismus". Wir wollen uns an dieser Stelle gar nicht damit aufhalten, diese Konstante zu dekonstruieren, denn selbstverständlich ist die Politik der CDU nicht pragmatisch, sondern von oftmals schädlichen Partikularinteressen und ideologischen Versatzstücken zerfressen. Interessant ist vielmehr die Außenwirkung. In meinem persönlichen Umfeld hier in Baden-Württemberg befindet sich eine erkleckliche Zahl von CDU-Stammwählern, und ich will meine Erfahrungen mit diesem Klientel für einen Moment verabsolutieren. Menschen, die ihr Kreuz bei der CDU machen, wissen dass sie damit eine für sie nicht unbedingt vorteilhafte Politik wählen. Sie wissen oftmals auch, dass sie diejenigen begünstigt, die haben, und nicht diejenigen, die nicht haben. Sie glauben zu wissen, dass die CDU nicht über die Gebühr an diejenigen gibt, die nicht arbeiten, und sie glauben, dass die CDU die Partei ist, die am wenigsten verschwenderisch mit Steuergeldern umgeht. Sie glauben außerdem oft daran dass es am besten ist, wenn der Staat sich so weit wie möglich heraushält, aber - und hier ist das Entscheidende - nicht im Sinne einer vollständigen Ignoranz und "fressen oder gefressen werden"-Mentalität, wie das die FDP propagiert (selbstverständlich auch, ohne es jemals einzulösen). 
Der Markenkern der CDU ist es, das zu tun was gerade als vernünftig erscheint, als geboten, egal wie unangenehm es sein mag. Das ist das simple Geheimnis ihres Erfolgs, denn damit sind sie unglaublich nah an der Alltagserfahrung aller Menschen. Die CDU betreibt in ihrer Außendarstellung Politik wie andere Menschen Haushaltsarbeit: ein dreckiges Geschäft, aber man muss es halt machen um das Haus in Ordnung zu halten. Und genau aus diesem Grund, aus dieser Mentalität heraus, konnte und kann die CDU ungestraft Politik gegen die Mehrheitsmeinung machen, wo die SPD oder die Grünen längst historische Einbrüche in der Wählergunst verzeichnen würden. Menschen, die die CDU wählen, wissen dass die Politik nicht mit ihren Präferenzen übereinstimmt oder schlecht für sie ist. Sie sind aber überzeugt, dass sie das Gebotene ist, und dass man das eben schlucken muss. Angela Merkels Unwort "alternativlos" fasst das in einem Wort fast perfekt zusammen. Es ist diese scheinbare Alternativloskeit, gegen die die anderen Parteien einfach nicht ankommen. 
Deswegen kann die CDU auch Umschwünge durchführen, die anderen Parteien das Genick brächen oder sie doch vor erhebliche Schmerzen stellten. Die SPD brauchte ein Jahrzehnt, um sich zu den Godesberger Thesen durchzuringen, und ein weiteres, um sie durchzusetzen. Die CDU hat ihre Familienpolitik innerhalb einer Legislaturperiode fast vom Kopf auf die Füße gestellt. Sie hat innerhalb von Wochen ihre Energiepolitik gedreht. Sie hat die Wehrpflicht innrhalb eines halben Jahres beseitigt. Und sie wird nun in wenigen Wochen ihre Position zu Mindestlöhnen drehen. Und das wird ihr gelingen, weil sie den Zeitgeist auf ihrer Seite weiß. Es ist alternativlos. Es ist vernünftig. Es ist geboten. Genauso problemlos wird die CDU den Vertrag von Maastricht oder Lissabon in vorher sakrosankten Punkten ignorieren, sie wird die Bundeswehr aus Afghanistan zurückziehen und sie wird die Finanztransaktionssteuer einführen. Nur, und das ist die andere Seite der Medaille, sie wird damit auch immer ein bisschen zu spät sein. Es gibt aber Zeiten, in denen Politik vorangehen muss, neue Wege aufzeigen, Visionen entwickeln und den Menschen davonlaufen. Das sind Zeiten, in denen es Alternativen gibt, in denen man sie debattieren und entwickeln muss. Es sind die Zeiten der progressiven Linken.

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