“Schreiben sie einen Blogbeitrag, über den sie wochenlang nachgedacht haben”, fordert Jaron Lanier in seinem seit Mitte Oktober auf Deutsch erschienene Buch “Gadget”. Es ist eine Aktion aus einer Liste von Vorschlägen zur Rettung der Welt. Jawohl!! Über genau diesen Beitrag habe ich länger nachgedacht. Traf sich gut, es waren gerade Herbstferien. Als Laniers Buch Anfang des Jahres in den USA erschien, waren wir gerade in der Schirrmacher Diskussion, und seine Thesen machten richtig Welle. Diese Welle schwappte bis in unser Blog. Ende Januar widmete ich Lanier einen deftigen Kommentar.
Das Erscheinen der (sehr schlechten) deutschen Übersetzung von “Gadget” löste zwar keine neue Welle mehr aus, aber freundliche Würdigungen: ” Der Mann denkt wirklich nach. Und das auf einem Niveau und mit einer intellektuellen Tiefe, die ihn jenen Vielschwaflern und Schnellerklärern enthebt, die die Zukunft bereits mit dem Zaunpfahl winken sehen, wenn etwa ihr E-Mail-Programm ein Update erfahren hat.” Bernd Graff, Süddeutsche Zeitung. “Laniers Aufruf für einen „digitalen Humanismus“ ist ein Aufruf zur digitalen Emanzipation.” So Hubert Spiegel in der F.A.Z.
Ups! Hatte ich dem Mann Unrecht getan, indem ich mir auf Basis seiner Interviews und einiger Zitate ein zu schnelles Urteil erlaubt hatte? Ist das Buch vielleicht tatsächlich ein Aufruf zur digitalen Emanzipation, und ich hab’s nicht gemerkt? Da, wie gesagt, gerade Herbstferien waren, habe ich das Buch gekauft, gelesen und eine Woche nachgedacht. Diese Woche hätte es eigentlich nicht gebraucht, aber was tut man nicht alles zur Rettung der Welt.
Laniers Story: Am Anfang waren lauter nette Kerle dabei, eine bessere (Internet) Welt zu schaffen. So entstand das Web 2.0. Dann aber kamen die Herren der Cloud, die Freudianer und Marxisten, und wie in der “Unendlichen Geschichte” das Nichts die Welt der Guten auffrisst, so überziehen die Herren der Cloud das Web nach und nach mit ihrem kybernetischen Totalitarismus. Zwar gibt es auch digitale Aktivisten, “darunter Leute von Xeroc Parc, Apple, Adobe und von den Universitäten, die den Kampf für das Gute aufnahmen” (!!! S. 33), aber die Herren der Cloud wurden und werden immer mächtiger.
Natürlich gibt es auf den 247 Seiten dieses Buches manche interessanten Gedanken, aber diese werden immer wieder in den Schatten gestellt von Grobheiten (“Digitaler Maoismus”), Flachheiten (“Die Ablehnung des Qualitätsgedankens führt zu Qualitätsverlust”,) und Abstrusitäten (“Wenn die Kopffüßer eine Kindheit hätten, wären sie ganz sicher die Herren der Erde”). Glücklicherweise war Laniers Buch nicht das einzige, das ich in den Herbstferien gelesen habe.
In diesem Herbst ist auch die Übersetzung des neuen Romans von Thomas Pynchon erschienen: „Natürliche Mängel“. Er spielt 1970 in Kalifornien. Die Hauptrolle spielt „Doc“ – ein Hippie-Detektiv. In diesem Roman gibt es auch eine interessante Nebenrolle. Kaum jemand hat davon gehört, nur wenige Freaks kennen sich damit aus: Das ARPAnet. Aus dem ARPAnet bekommt „Doc“ ab und zu Informationen zugeschoben. Der Freak, der Doc auf unverständliche Weise Informationen aus diesem mysteriösen ARPAnet beschafft, glaubt, das ARPAnet habe seine Seele geraubt (1970!). Im Vergleich zum Web 2.0 im Jahre 2010 war das ARPAnet 1970 bestenfalls Web 0.002.
Diskussion über Technologie ist nötig. Lanier liefert einen Beitrag, der jede Diskussion unmöglich macht. Lanier diskutiert nicht, er meißelt seine Thesen in Steinplatten und wirft mit diesen um sich. Da kann man sich nur ducken.