Es ist früher Nachmittag und der Einsatz geht in eine Eckkneipe, wo um diese Uhrzeit schon reger Betrieb herrscht. Harry hatte wohl einen Krampfanfall, sagt jedenfalls die Claudia. Und die muss es ja wissen, denn ihr gehört der Laden seit gefühlten 250 Jahren. Der Harry ist jedenfalls bei der Claudia Stammgast und hat heute nur eine Apfelschorle getrunken. Harry ist Mitte vierzig und es liegt der Verdacht nahe, dass er gelegentlich auch mal was anderes trinkt außer Apfelschorle. So Wodka pur vielleicht. Jetzt ist das Phänomen eines Alkoholentzugskrampfs ja nicht neu. Jemand, der regelmäßig trinkt, trinkt mal einen Tag nichts und erleidet dann einen Krampfanfall. Das ist unschön, entbindet einen aber nicht von der Sorgfaltspflicht, diesen Patienten in die nächste Klinik zu fahren und einmal durchchecken zu lassen, das heißt mindestens mal ein CT und einen Neurologen, der sich diesem Patienten sicherlich mit voller Begeisterung annehmen wird.
Harry will aber nicht. Er möchte partout nicht mitkommen. Warum nicht, ist nicht ganz klar, aber die wenigsten Alkoholiker haben Bock auf die Nummer. Es war sein erster Krampfanfall und ich erkläre ihm, dass man natürlich auch Läuse und Flöhe haben kann und dass man sich das angucken muss. Harry will trotzdem nicht. Jetzt ergeben sich hier leider einige Probleme. Zum einen ist jemand nach einem Krampfanfall oftmals nicht gleich wieder Herr seiner Sinne. Eine Transportverweigerung darf mir aber nur jemand unterschreiben, der klar im Kopf ist. Schon allein deshalb lässt man die Patienten nicht einfach zurück. Außerdem muss dem Patienten klar gemacht werden, dass er in neurologische Behandlung gehört, und auch z.B. aus Gründen des Eigen- und Fremdschutzes jetzt nicht mehr selber Auto fahren darf. Und kann ich mich darauf verlassen, dass Harry morgen echt bei seinem Hausarzt vorbeigeht? Eher nicht. Also bleibt als ultima Ratio noch die freundliche Unterstützung der Herren in Grün, um eine Krankenhauseinweisung zu forcieren. Aber will man das wirklich?
Nächster Fall, ein paar Wochen später. Fritz hat einen Krampfanfall erlitten. In einem schicken Einfamilienhaus in bester Wohnlage. Seine Frau sagt ganz unumwunden er habe ein Alkoholproblem, das er sich selbst aber nicht eingestehen wolle. Er trinke jeden Tag zwei Flaschen Wein und eine halbe Flasche Wodka. Natürlich geht er noch arbeiten, die Fassade ist intakt. Schon mehrmals hat er Termine bei der Suchtberatungsstelle ausgemacht und diese immer wieder abgesagt. Jetzt wollte er das Problem irgendwie selbst in den Griff bekommen und hatte den ganzen Tag keinen Alkohol getrunken. Dann kam der Krampfanfall.
Fritz ist noch unwilliger als Harry. Er zetert, er schreit, er weigert sich vehement, mit in die Klinik zu fahren. Auch seine Frau, die weinend daneben steht, kann ihn nicht umstimmen. Er ist noch nicht wieder voll orientiert und sicherlich auch deshalb besonders aggressiv. Da er beim Eintreffen des Rettungsdienstes noch schläfrig war, hat er zumindest einen Zugang in der Hand, hat bislang jedoch keine Medikamente erhalten. Eine Medikamentengabe potenziert das Problem natürlich noch, denn wenn ich etwas gespritzt habe, dann kann ich den Patienten erst recht nicht zu Hause lassen, weil er dann wirklich nicht mehr einwilligungsfähig ist (zumindest nicht, wenn ich ihm Benzos spritze).
Wie mache ich also weiter?
Harry
Harry ist nach dem Krampfanfall schnell wieder voll orientiert, kann brav sein Geburtsdatum aufsagen und weiß, welcher Tag heute ist. Seine Gründe für die Transportverweigerung sind zwar nicht einleuchtend, aber zumindest in sich stimmig. Das Team hat den Eindruck, dass Harry die Konsequenzen seines Handelns überblicken kann. Einen Führerschein hat er dankenswerter Weise auch nicht. Harry wird umfassend darüber aufgeklärt, wie ich mir das jetzt so vorstelle für ihn (morgen zum Hausarzt, Vorstellung beim Neurologen, Gefahr eines erneuten Krampfanfalls etc.). Dann unterschreibt er die Transportverweigerung und wir lassen ihn ziehen.
Fritz
Bei Fritz ist die Situation ungleich schwieriger. Fritz ist wesentlich aggressiver als Harry und deutlich weniger abgeklärt. Auch ist er nicht orientiert, was seine Einsichtsfähigkeit sicherlich noch weiter begrenzt. Außerdem hat er eine intakte Fassade, er ist noch nicht von außen gezwungen, sich mit seinem Alkoholproblem auseinanderzusetzen. Ein Klinikaufenthalt würde ihm das jedoch recht klar vor Augen führen. Meine Vermutung ist, dass seine massive Abwehr vor allem daher rührt. Umso wichtiger erscheint es mir, dass Fritz in eine Klinik kommt, denn ohne die Einwirkung von außen wird sich sicherlich nur wenig ändern. Was also tun? Fritz tobt und wütet. Ich habe allerdings den Verdacht, dass er eigentlich ein lieber Kerl ist. Sollen wir die Polizei zur Hilfe holen? Und Fritz mit Polizeigewalt aus seinem Haus schleifen? Vor den Augen der Nachbarn? Der Klassenkameraden seiner Kinder?
“Ich würde ihnen gerne etwas spritzen, um die Wahrscheinlichkeit zu reduzieren, dass sie nochmals einen Krampfanfall erleiden.”, sage ich schließlich nach einigem Ringen mit mir selbst zu ihm. Fritz hält mir brav seinen Arm mit dem Zugang entgegen. Nach einer Dosis Midazolam, von der ich selbst drei Tage schlafen würde, war Fritz’ Kooperationsbereitschaft deutlich verbessert. Ohne allzu großen Widerstand lässt er sich ins Auto verfrachten und in die Klinik bringen. Seine Frau ist mir sehr dankbar, Fritz nicht so sehr. Und natürlich habe ich Gewissensbisse. Ich habe einen Patienten gegen seinen Willen in die Klinik gezerrt. Das darf ich nicht. Andererseits darf ich es natürlich schon, wenn der Patient nicht in einer Lage ist, seinen Willen glaubhaft zu äußern, so wie es Harry war, und er möglicherweise für sich und andere eine Gefahr darstellt (und das tut er, wenn er beispielsweise morgen ein Kind umfährt, weil er auf dem Weg zu Arbeit erneut einen Krampfanfall erleidet). Eigentlich ist es eine Grauzone. Der korrekte Weg führt sicherlich über die Kollegen in Grün – aber aus den eben geschilderten Beweggründen wollte ich das nicht tun.
Harry sah ich nie wieder. Fritz wurde nach drei Tagen aus der Klinik entlassen. Seine Familie und er selbst hegen die berechtigte Hoffnung, dass er sein Alkoholproblem in den Griff bekommen wird. Ein Anfang ist jedenfalls gemacht.