1955, mitten im Kalten Krieg. Ein Schweizer Jude fährt mit einem zerbeulten Auto durch die Ödnis der amerikanischen Südstaaten und fotografiert alles, was ihm vor die Augen kommt. Für die Obrigkeiten einer Kleinstadt in Arkansas mehr als Grund genug, den Mann aus dem Verkehr zu ziehen, der Spionage zu verdächtigen und ins Gefängnis zu stecken. Dass der seit 1947 in New York wohnhafte Europäer die Staaten dank eines Guggenheim-Stipendiums bereisen kann, macht ihn für die Südstaatler nur noch verdächtiger…
In diesem Streifzug soll für einmal nicht eine Persönlichkeit im Zentrum stehen, die in Zürich wirkte, sondern ein gebürtiger Zürcher, der hier seine Ausbildung genoss, um dann auszuziehen und zu einem Künstler zu werden, der mit seiner Arbeit die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts massgebend prägte. Fotografie, Film, Musik und Literatur finden in seinen Werken zusammen. Er hat die Art und Weise verändert, wie die Welt auf Amerika und Amerika auf sich selbst blickt. Tauchen wir ein in das unschätzbare Schaffen des Robert Frank.
Robert Frank in den späten Fünfzigerjahren. Q: NYTimes
Am 9.11.1924 wird Robert Frank in Zürich als Sohn des deutschen Juden Hermann Frank, der nach dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz geflüchtet war, und der Basler Unternehmertochter Regina Zucker geboren. Im Zürcher Engequartier verbringt er seine Schulzeit, besucht das Gabler- und das Lavater-Schulhaus, es folgen Lehrjahre als Fotograf in den Studios von Hermann Segesser und Michael Wolgensinger, ebenfalls in Zürich, danach weitere Stationen in Genf und Basel, ehe er sich 1947 via Mailand und Paris nach New York begibt.
In der neuen Heimat findet er zunächst Arbeit beim Magazin “Harper’s Bazaar”, das er wegen seiner strikten kommerziellen Ausrichtung schnell wieder verlässt. Er wird Autorenfotograf, bereist unter anderem Wales, Spanien, Peru und Bolivien für seine Reportagen, die z.B. in “Life” erscheinen. 1950 heiratet er Mary Lockspeiser, mit der er zwei Kinder Pablo (1951-1995) und Andrea (1954-1974) hat.
1955 dann das Stipendium der Guggenheim Foundation, das ihm erlaubt, das Land zu bereisen. Nicht weniger als 28’000 Fotografien verfertigt er im Laufe dieser Roadtrips, die Erinnerungen an Jack Kerouacs Roman “On The Road” wach werden lassen. Kerouacs Meisterwerk, basierend auf drei Reisen zwischen 1947 und 1950, war zu dieser Zeit bereits niedergeschrieben, aber noch nicht veröffentlicht worden. Der Autor war weiterhin unterwegs und begegnete dabei in New York 1957 nach einer Party – Robert Frank. Vielleicht war es für beide eine der letzten Nächte in Anonymität – Kerouacs Berühmtheit kam 1957, Franks 1958/59. Es begann eine fruchtbare Beziehung zwischen dem Fotografen und den Beat-Poeten, die Gefallen an den melancholisch-unkonventionellen Amerikabildern des Schweizers fanden.
Eine neue Bildsprache für Amerika: Beerdigung, St. Helena, South Carolina, 1955. Q: The Guardian
1958 wählte Frank aus seinem enormen, während der Reise entstandenen Fundus 83 Aufnahmen aus und stellte sie für ein Buch zusammen, das zunächst in Frankreich unter dem Titel “Les Américains” erschien. Erst etwas mehr als ein Jahr später liess sich auch in den USA ein Verleger dafür finden. Die Reaktionen aber waren empört, die beiden Förderer, die Frank für das Guggenheim-Stipendium vorgeschlagen hatten, distanzierten sich von den Ergebnissen. Das Vorwort der Publikation schrieb Jack Kerouac. Darin heisst es:
“Anybody doesnt like these pitchers dont like potry, see? Anybody dont like potry go home see Television shots of big hatted cowboys being tolerated by kind horses. Robert Frank, Swiss, unobtrusive, nice, with that little camera that he raises and snaps with one hand he sucked a sad poem right out of America onto film, taking rank among the tragic poets of the world. To Robert Frank I now give this message: You got eyes.”
Das Amerika der späten Fünfzigerjahre, selbstgewiss, im Aufbruch, besessen von Autos, Staubsaugern, neuen Küchen, sorglosem Leben, wollte Franks Aufnahmen nicht sehen. Schon gar nicht von einem Ausländer wollte die Nation vor Augen geführt bekommen, wie es wirklich um sie stand. Die Reaktionen fielen überwiegend negativ aus – und Frank wandte sich dem Film zu.
1959 produzierte er gemeinsam mit Alfred Leslie den Kurzfilm “Pull My Daisy”, in welchem die Beatpoeten Allen Ginsberg, Gregory Corso und Peter Orlovsky zu sehen sind, ausserdem Larry Rivers, einer der Urväter der Pop Art, in einem seltenen Auftritt als Schauspieler. Die Szenen wurden geplant und gedreht, anschliessend mit einer improvisierten Narration von Jack Kerouac und jazzigen Musikeinsprengseln unterlegt, die das ekstatische Gefühl und die immer wieder betonte Spontaneität des Genres eindrücklich zum Leben erwecken.
Pull My Daisy from Altarwise on Vimeo.
1961 erschien ein weiterer Kurzfilm: “The Sin of Jesus”, die Verfilmung einer Kurzgeschichte von Isaac Babel, in der eine einsame Schwangere von Jesus zur sexuellen Befriedigung einen Engel zur Seite gestellt bekommt, diesen jedoch in der ersten Nacht schon erdrückt und so den Bruch mit Jesus herbeiführt… Wie “Pull My Daisy” kann der Film zu den frühen Dokumenten des sogenannten New American Cinema gezählt werden.
Viele der kurzen Filme, die Robert Frank in den Sechzigerjahren produziert, sind interessant, jedoch schwer fassbar, bisweilen richtig ungemütlich. “Conversations in Vermont” (1969) etwa zeigt den Vater Frank mit seinen beiden Kindern beim Ausmisten eines Pferdestalls und in anderen häuslichen Tätigkeiten. Frank fordert seine Kinder darin immer wieder auf, ihm Auskunft über seine Fehler und sein Versagen als Vater zu geben. Eine geradezu ungehobelte Offenlegung intimer familiärer Angelegenheiten, wie wir sie heutzutage etwa aus den so beliebten Büchern des Norwegers Karl Ove Knausgård kennen.
Im selben Jahr, 1969, erscheint auch der erste vollwertige Spielfilm von Frank: “Me And My Brother”. Die Erkundung der Beziehung zwischen Peter Orlovsky und seinem schizophrenen Bruder Julius, die beide bei Allen Ginsberg in der Wohnung leben. Mit diesem Film erschuf Frank einen bedeutenden Kommentar über die Meta-Ebenen des Films, eine neue Form zwischen Fiktion und Dokumentation (später manchmal Essayfilm genannt). Und nicht zuletzt – für alle Liebhaber der Filmtrivia – war es das Spielfilmdebüt des grossen Christopher Walken, der einen Regisseur für den Film im Film spielte.
Es war dies eine produktive Zeit für Frank, dessen vielleicht spannendstes Werk kurz bevorstand. Es ist zugleich eines, das – zumindest in Prä-Internetzeiten – fast niemand je gesehen hat: “Cocksucker Blues”.
Nachdem die englische Rockband The Rolling Stones 1969 an einem Konzert in Altamont eine Tragödie miterleben müssen, als der junge Afro-Amerikaner Meredith Hunter von einem Hell’s Angel erstochen wurde. Der Anlass gilt als symbolisches Ende der Hippie-Bewegung. Seither hatten die Stones die USA nicht mehr bereist. Für ihre Rückkehr 1972 wollten sie, wie sie es auch schon früher getan hatten, ein filmisches Begleitteam. Sie engagierten Robert Frank, die Tour zu filmen, gewährten ihm Zutritt zu allen Räumen, liessen ihn überall Kameras verteilen, so dass, wer auch immer Lust dazu verspürte, die Geschehnisse filmen konnte. Franks Fotografien zierten bereits die ikonische Rolling-Stones-LP “Exile On Main Street”, auf deren Cover ein Bild gezeigt wird, das er während des Roadtrips 1955 geschossen hatte: die von Bildern übersäte Wand eines Tattoostudios. Auf den Innenseiten befinden sich verschiedene Fotografien der Band selbst.
Fotografien in der Fotografie: Das Cover von “Exile On Main Street”
“Cocksucker Blues” hätte Werbung sein sollen für die Band, eine schöne, wilde, romantische Rockdokumentation. Als die Band aber Franks Endergebnis – “Cocksucker Blues” – zu Gesicht bekam, verklagte sie den Filmer. Diese Aufnahmen sollte niemand sehen! Eine junge Frau sitzt auf dem Hotelbett und spritzt sich Heroin. Mick Jagger masturbiert. Ein Roadie hat mit einer widerwilligen jungen Frau Sex in einem Flugzeug. Kokain, Heroin, geschwollene Arme, zahnlose Münder. Die Bilder waren grauenhaft, ein Zeugnis des Schreckens und das definitive Argument gegen den Rock’n’Roll-Lifestyle. Einzig die Szene mit dem Sex im Flugzeug soll gestellt gewesen sein, sagt Frank später. Passenderweise fand der Film auch Eingang in Don DeLillos grosses Werk “Underworld”, eine Meilenstein amerikanischer Paranoia, in dem eine Sektion den Titel “Cocksucker Blues” trägt.
Vor Gericht wurde ein Kompromiss erreicht: Der Film durfte maximal viermal jährlich und ausschliesslich in Anwesenheiten des Regisseurs öffentlich gezeigt werden.
Fast zwanzig Jahre liegen zwischen der Entstehung von “The Americans” und der Verbannung von “Cocksucker Blues” – Robert Franks wichtigste Schaffensphase. Der nette, unauffällige Schweizer mit der kleinen Kamera hatte eigenhändig die Ikonographie einer Nation und die Formen einer Kunst in neue Dimensionen geführt. Er hat den American Way of Life dekonstruiert, Entfremdung und Unsicherheiten hinter den Fassaden offengelegt. Der Immigrant mit der Kamera hatte das Land seiner Adoption enttarnt, zuerst hat er dafür Hass, spät erst Anerkennung geerntet.
Persönliche Tragödien zeichneten sein Leben in der Folge: 1974 starb seine Tochter Andrea bei einem Flugzeugabsturz. Sein Freund Danny Seymour, der während der Dreharbeiten zu “Cocksucker Blues” dem Lockruf der Drogen gefolgt war, starb ebenfalls. Sohn Pablo wurde zu dieser Zeit zum ersten Mal mit Schizophrenie diagnostiziert. Er beging 1994, nach einem Leben, das von Drogensucht und Krankheit geprägt gewesen war, Suizid.
Robert Frank aber ist immer noch da. Heute 90jährig lebt er mit seiner zweiten Frau June Leaf, mit der er seit den Siebzigerjahren verheiratet ist, in Kanada. Ein Mann, dessen Einfluss auf die Kunst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts unermesslich ist. In Zürich, dem Ort seiner Geburt und seiner Jugend, seiner Ausbildung und seiner Muttersprache, erinnert heute wenig an diesen grossen Künstler, auf den man doch eigentlich so stolz sein dürfte. Es ist zu hoffen, dass sich dies in Zukunft noch ändern wird…
Der amerikanische Cowboy. Aus: The Americans, 1958. Quelle
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Weiterführend:
Anlässlich der Ausstellung “Robert Frank: Storylines” in der Londoner Tate Modern Gallery ist 2005 der Dokumentarfilm “Leaving Home, Coming Home” entstanden, ein einmaliges Filmdokument, in welchem Robert Frank, der sonst praktisch nie Interviews gibt, intime Einblicke in sein Leben und Arbeiten gewährt: