Zu Tode betrübt

Schweigen. Das war die Reaktion, die Lana Del Rey mit ihrem ersten Auftritt auslöste. Niemand klatschte, als sie als 19-Jährige auf der Bühne der «Lilo Lounge» stand. Niemand buhte sie aus.

Das war ein durchaus bezeichnender Karrierestart. Im New Yorker Stadtteil Williamsburg ist man normalerweise viel zu cool, um sich von einem dahergelaufenen Mädchen mit Gitarre vom Trinken, Knutschen oder Plappern abhalten zu lassen. Aber Lana Del Rey hatte bei ihrem Bühnendebüt, auch wenn sie keine Begeisterungsstürme auslöste, sofort die ganze Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer. «Ich dachte: Wenn ich die Leute von etwas abhalten kann, dann könnte das reichen», erinnert sich die mittlerweile 25-Jährige an jenen historischen Abend. Vielleicht ahnte sie: Ich habe diese Menschen erreicht, gefesselt, beeindruckt. Und das Publikum spürte wohl damals schon: Diese Sängerin ist besonders.

Es ist dieses Anderssein, das Lana Del Rey seitdem einen unvorstellbaren Erfolg eingebracht hat. 120 Millionen Treffer spuckt Google bei einer Suche nach «Lana Del Rey» aus. Das ist doppelt so viel wie bei Kylie Minogue. Dabei ist die Australierin schon seit 25 Jahren im Geschäft – Lana Del Rey veröffentlicht heute erst ihr Debütalbum Born To Die.

Bei YouTube muss man nur ein «L» eintippen und es wird bereits die Suche nach «Lana Del Rey Video Games» vorgeschlagen. Mehr als 22 Millionen Aufrufe hat dieses Lied mittlerweile, das die Initialzündung für den Siegeszug von Lana Del Rey wurde. Anfang Dezember, als Video Games den Spitzenplatz der deutschen Charts erreichte, waren es noch nicht einmal 10 Millionen.

Immer höher, immer schneller

Der Aufstieg der Amerikanerin, die eigentlich Elizabeth Grant heißt, scheint sich immer mehr zu beschleunigen, und nun im Erscheinen des Debütalbums zu kulminieren. Ein solch verdächtig perfektes Maß an Timing hat Lana Del Rey auch gleich ihre erste waschechte Kontroverse eingebracht. Ist sie nun das Mädchen aus dem Trailerpark, das es mit selbstgebastelten Videoclips und viel Talent zum Durchbruch geschafft hat? Oder ist sie die Tochter aus gutem Hause, die sich hat einspannen lassen in eine perfekte Marketing-Strategie?

Im Netz wird seit Monaten hitzig diskutiert: Ist Lana Del Rey nun authentisch oder fake? Soul oder Hype? Genie oder Plastik? Wird sie das Album des Jahres vorlegen oder einen totalen Reinfall? Es wird derart erbittert gestritten, dass man sich jetzt, im Angesicht von Born To Die, fast gezwungen sieht, sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Ein Sowohl-als-auch scheint kaum möglich – aber genau das ist das richtige Urteil für diese CD.

Es gibt eine Menge auf Born To Die, das als unwiderlegbarer Beweis für die Klasse von Lana Del Rey herhalten kann. Da ist, natürlich, Video Games. Noch immer ist dieses Lied unfassbar faszinierend, mit Harfe, Pauke, einem winzigen bisschen Klavier und dieser Stimme, die gar nichts mehr zu wollen scheint, aber alles zu wissen. Ohne einen Beat und ohne einen echten Refrain ist Video Games eigentlich eher ein Anti-Hit, und doch hat das Lied eine Strahlkraft, die unwiderstehlich ist.

Der Mann als reizende Gefahr

Mehr noch als dieser Über-Song ist es aber das andere schon seit Oktober bekannte Lied, das den Sound von Born To Die treffend zusammenfasst: Blue Jeans ist komplex, aber reduziert, anspruchsvoll, stilsicher und modern wie das gesamte Album. Immer wieder flirren kleine verstörende Sounds rund um das Grundgerüst aus Beats, Streichern und Lana Del Reys Stimme. Vor allem aber nimmt sie in Blue Jeans eine Perspektive ein, die sich wie ein roter Faden durch dieses Debüt zieht. Da ist ein Mann, der attraktiv wirkt, bei dem man aber auch sicher sein kann, dass er am Ende nichts als Schmerz hinterlassen wird. Dieser Widerstreit wird auf Born To Die immer wieder ausgefochten.

«You’re not good for me / but baby I want you», heißt es in Diet Montain View, zu einem Hip-Hop-Beat und einem Geplinker, das an den If I Ruled The World von Nas und Lauryn Hill erinnert. «My old man is a bad man / but I can’t deny the way he holds my hand», singt Lana Del Rey im famosen Off To The Races. In der Strophe klingt sie wie ein verlebter Vamp, im Refrain schafft sie es dann plötzlich, sich in ein kokettes, quietschvergnügtes Mädchen zu verwandeln. Auch der Million Dollar Man, der in einem Klanggewand mit James-Bond-Soundtrack-Ausmaßen besungen wird, ist so einer, von dem Lana Del Rey genau weiß, dass er sie nicht glücklich machen wird, dem sie aber doch nicht widerstehen kann.

Man muss aus diesem Konflikt kein altmodisches Frauenbild herauslesen. Diese Zeilen zeigen vielmehr: Die Gefühle sind hier immer stärker, größer und schneller als der Verstand – und das macht einen beträchtlichen Teil des Reizes von Lana Del Rey aus. Diese Musik ist niemals kalkuliert. Keines dieser Lieder schreit «Kauf mich!» Genau das ist es, was Lana Del Rey so wohltuend von vielen anderen Chart-Künstlern abhebt. Und das ist es auch, was sich in ihrer Ästhetik widerspiegelt, in der Frisur, in den Videos, im altmodischen Plattencover von Born To Die: Hier wird die Nostalgie gefeiert, die Sehnsucht nach einer Ära, in der noch Zeit für Gefühle war, ohne Ratingagenturen, Speed-Dating, Globalisierung – und perfiderweise auch ohne die Möglichkeiten virtueller Selbstinszenierung.

Glamour, Spektakel und Individualität, die liegen hier nicht in der Show wie bei Kylie oder im Outfit wie bei Lady Gaga, sondern in der Stimme. Der Gesang bleibt meist ganz gefangen in seiner Melancholie, abgeklärt, souverän und selbstsicher, so dass die gelegentlichen Ausbrüche von Leidenschaft umso beeindruckender und bewegender wirken. Zu Tode betrübt – das ist bei ihr die Grundstimmung, und wenn sie die Stimme hebt oder das Tempo leicht anzieht wie in Summertime Sadness, das pompös wie Hurts und reduziert wie The XX klingt, dann wird dieser Schmerz noch greifbarer, intensiver, schöner. «Hauptsache nicht so singen zu müssen, wie es so viele andere tun», hat sich Lana Del Rey ganz am Beginn ihrer Karriere gewünscht. Dieses Ziel hat sie längst erreicht.

Die größte Stärke ihres Sounds: Er ist kein bisschen ehrgeizig. Es gibt auf Born To Die keine Euphorie, bloß Hoffnung, Trost, Sehnsucht. Lana Del Rey klingt, als wäre es ihr völlig egal, wenn sie ab morgen kein Popstar mehr wäre. Und dennoch ist Lana Del Rey eine Figur, für die man sich keinen anderen Beruf vorstellen kann.

Allerdings ist nicht alles auf Born To Die außergewöhnlich oder gar meisterhaft. Das Album (übrigens eigentlich schon das zweite von Lana Del Rey; ihre erste Platte unter dem Namen Lizzy Grant ist inzwischen aus dem Verkehr gezogen) wurde unter anderen von Eg White (Adele, Duffy) und Guy Chambers ( Robbie Williams) produziert, und so gibt es auf Born To Die gelegentlich auch Durchschnittspop. Einige Passagen klingen plump, wenn man sich den Hype und diese außergewöhnliche Stimme wegdenkt. National Anthem hat wenig Charakter, auch Dark Paradise ist bloß aufgeblasene Fließbandware.

Mehr als die neue Amy Winheouse

Trotzdem hat Born To Die genug zu bieten, um den Hype am Leben zu erhalten, und auch Einiges, was ihn überdauern könnte. Das wunderhübsche Radio könnte eine Single werden. Das meisterhafte This Is What Makes Us Girls beweist, dass viel mehr in dieser Künstlerin steckt als die neue Amy Winehouse.

Born To Die wird Lana Del Rey noch ein bisschen berühmter machen, und sie wird es genießen. Denn sie gibt ganz offen zu, dass sie den Trost, den sie ihren Hörern spendet, selbst aus ihrem Status als Popstar zieht: «Ich kenne eine Menge unterschiedlicher Leute. Im Dunkeln der Nacht, wenn sie betrunken sind, wollen sie doch alle das Gleiche. Alle wollen sie berühmt sein. Das Bedürfnis, dass andere Leute von deinem Leben Notiz nehmen, ist nur natürlich und menschlich. Es ist für Menschen wichtig, beobachtet zu werden. Sie wollen nicht allein sein. Ich will nicht allein sein.»

Künstler: Lana Del Rey
Album: Born To Die
Plattenfirma: Universal
Erscheinungsdatum: 27. Januar 2012

Quelle:
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Medien Nachrichten -
Lana Del Rey – Zu Tode betrübt

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