Zu spät geschaltet

Kennt ihr dieses Pokémon?

Zu spät geschaltet

Bei diesem Wesen handelt es sich um Flegmon. Laut dem Pokèdex in der einzig wahren Pokémon-Variante für den Game Boy (Rot/Blau) heißt es: „Ein unglaublich träges Pokèmon. Wenn es verletzt wird, bemerkt es den Schmerz erst Sekunden später.

Spontan erinnerte ich mich an dieses Pokèmon, als ich las, was ich erst kürlich gelesen habe. Aber was genau hat Flegmon nun mit meinem eigentlich Thema zu tun. Beides dreht sich um Kinder. Auf der einen Seite hätten wir die Pokémon, in deren Universum sich Millionen Kinder verloren haben, ohne gleich wegen zu viel Realismus ein neues Massaker an den Schulen zu starten. Auf der anderen Seite steht Die Super Nanny. Da ist es ein Wunder, dass es noch kein Massaker gab.

Seit 2004 kümmert sich Katja Saalfrank um die Osama Bin Ladens des Kinderzimmers, um die Westerwelles der Klasse 3a oder die Freimaurer des Parkspielplatzes.
In jeder neuen Folge also wird – meist anschaulich mit Basteleien – die Familie auf den Kopf gestellt, damit auch ja jeder mit den Rabauken klar kommt. Man konnte immer schon nach fünf Minuten fühlen, dass es bei dem Konzept der Sendung nicht wirklich um Hilfe beim Umgang mit verstörten Kindern geht und auch nicht um die Rabeneltern, die in ihrer Erziehung viel falsch gemacht haben (was sie eigentlich immer haben, sonst müsste Saalfrank nicht antanzen), sondern lediglich Zurschaustellung. Eine Ausgeburt des televisionären Krawalltalks, der die 90er dominierte, und nun in neuer, realistischerer Form den Katastrophentourismus der Menschen befriedigt. Während man damals für „Freaks“ in den Zirkus ging, schaltet man heute RTL an. Spart man Eintritt – mal etwas Positives daran gefunden!

Warum nun Flegmon?
Die Eigenschaft, etwas erst dann zu registrieren, wenn alles zu spät ist, teilt es mit etlichen Gremien auf politischer oder anderweitig wichtiger Ebene. Und dies wird hier kein Angriff auf die Regierung, die haben schon genug ihr Fett weg (obwohl es ja wie die Faust aufs Auge passt).
Nein, ich spreche hier von der KJM. Die KJM, oder ausgesprochen „Kommission für Jugendmedienschutz der Landesanstalten“, prüft anhand des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages Rundfunk und Telemedien nach Verfehlungen gegenüber dem Staatsvertrag.
Gestern haben sie ihren Quartalsbericht veröffentlicht, in dem sie explizite Fälle auflisten. Und siehe da, da ist auch unsere Katja wieder!
Wer sich die komplette Pressemitteilung durchlesen will, kann dies hier auf der Internetpräsenz der KJM tun. Es lohnt sich wirklich mal zu sehen, was so über den Bildschirm flimmert.
Ich zitiere lediglich den Abschnitt über Die Super Nanny von eben dieser Pressemitteilung:

„In einem Fall stellte die KJM einen Verstoß gegen die Menschenwürde fest: Es handelt sich dabei um eine Folge der Doku-Soap „Die Super Nanny“, die um 20.15 Uhr auf RTL lief. Die Folge thematisiert das psychisch und physisch gewalttätige Verhalten einer Mutter gegenüber ihren zwei- und fünfjährigen Mädchen: Vor laufender Kamera wird gezeigt, wie die Mutter ihre fünfjährige Tochter anschreit, ihr mit Schlägen droht, sie ignoriert und sie schließlich schlägt – ohne dass das Kamerateam eingreift. Diese problematischen Szenen werden insgesamt dreimal gezeigt, unter anderem auch in einem Teaser zur Sendung, dessen Zweck es ist, möglichst viele Zuschauer zu generieren. Das Kind wird in seinem sozialen Achtungsanspruch verletzt und zum Objekt der Zurschaustellung degradiert. Aus diesen Gründen stellt das Angebot in den Augen der KJM einen Menschenwürde-Verstoß dar und ist unzulässig.

Fällt euch etwas auf? Im Grunde wird dort nur erläutert, wie der grobe Aufbau einer Sendung ist. Ob die Kinder nun 5 oder 13 Jahre alt sind, die Eltern physische Gewalt ausüben oder komplett vernachlässigen – es passt doch auf JEDE Sendung von Die Super Nanny?!
In jeder Folge wird geschlagen und geschrien, in jeder Folge wird die Menschenwürde der Kinder wortwörtlich mit Füßen getreten. Und nun auf einmal, sieben (gerne auch als Ziffer: 7!) Jahre nach Produktionsstart will die KJM Ermittlungen einleiten. Wegen Verletzungen der Menschenwürde. Noch einmal zur Klarstellung: die Menschenwürde ist bereits in unserem Grundgesetz in Artikel 1  als höchstes Gut der Gesellschaft verankert.

In der Metapher des Kindes, das in den Brunnen gefallen ist, spielt die KJM hier scheinbar den seeligen Erretter, dabei ist der Leichnam des Kindes im Brunnenschacht längst aufgeschwemmt.
Über die Sendung Die Super Nanny kann man diskutieren. Die Erziehungsmethoden sind umstritten, die Inszenierung der Fälle am Rande des Ertragbaren – aber plötzlich um die Ecke zu kommen und eine Folge anzuprangern, die in der Form nahezu alle Staffeln hindurch vorkommt, ist Heuchelei per excellence.

Aber vielleicht liege ich mit meiner Flegmon-Assoziation nicht so falsch und die Trägheit der KJM war in diesem Fall wahrscheinlich chronisch.
Bezahlt RTL vielleicht nicht mehr genug?


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