Zerberus, dreiköpfig und stets wachsam

Ein nettes kleines Bändchen an Literatur fliegt uns da auf den Schreibtisch, und schon die Kürze dieses Romans (Reich-Ranicki würde angesichts der Quantität heftigst protestieren) ermuntert uns zur Lektüre.

Warwick Collins: “Herren”, Roman, aus dem Englischen von Thomas Mohr, Kunstmann. 2001

Warwick Collins ist wenig bekannt. Er ist Südafrikaner, 1948 geboren, lebt jetzt in Lymington, Hamshire. Er ist Biologe und hat neben dem Studium mit der Schriftstellerei begonnen. Mehrere Romane sind das Ergebnis.

Die Helden von “Gents” (so der Originaltitel) sind drei aus Jamaica stammende Schwarze mittleren Alters. Sie leben mit ihren Familien und Kindern in London und lassen sich schnell als typische Existenzen der farbigen Mittel- bzw. Unterschicht eines von Blair und New Labour geprägten Great Britain erkennen. Angenehm fällt vor allem Jason aus der Rolle, der mit seiner Veranlagung zur Bigamie und seiner Rastamähne neben den eher bürgerlich gezeichneten Reynolds und Ez aus dem Dreiergeflecht herausragt. Ansonsten gestaltet sich das Leben dieser drei (gänzlich unspektakulären) Musketiere Londons banal bis normal: Ez träumt von der großen Fußballkarriere seines Sohnes, dieser allerdings begnügt sich mit einer Lehre als Friseur. Man trifft sich nach der Arbeit zum gemeinsamen Abendessen und plaudert über Alltägliches. In den Arbeitspausen trinkt man (ausschließlich) british tea und isst dreieckig geschnittenen Sandwiches. Auch Jasons Liaison mit zwei Frauen wird in diesem Kosmos akzeptiert, am Ende des Romans verlässt er allerdings London, um seiner selbst auf einer jamaikanischen Insel im Stile einer sozialistischen Kolchose zu leben. So weit wenig erregend, so weit wenig originell.

Collins scheint sich um die Zeichnung der Charaktere insgesamt auch nur wenig zu scheren. Insgesamt behält hier der Roman etwas deutlich Fragmentarisches, die vorhandene Möglichkeit zur Ausarbeitung der angedeuteten Figuration wird (bewusst ?) nicht wahrgenommen. Etwas ganz anderes ist es, dass der Autor zeigen, thematisieren und auskosten will. Das Merk-Würdige dieses Romans ist der Arbeitsplatz der drei Herren. Zumeist wird der Alltag ihres Berufsleben geschildert.

Sie repräsentieren das Personal einer Herrentoilette einer Londoner U-Bahn-Station. Reynolds leitet dort das kleine Büro und die anfallende Verwaltungsarbeit, Jason und der zu Beginn des Romans neu hinzukommende Ez sind für die Säuberung und Wartung der Toilettenanlagen zuständig. Man gewinnt dabei den Eindruck, dass man eintaucht in eine Art Unterwelt, den Hades, die Vorhölle bzw. den verbotenen Raum der über ihren Köpfen pulsierenden Großstadt. Die drei Angestellten verkörpern dabei den Zerberus, dreiköpfig und stets wachsam auf die Kunden (sic!), die sich in den Räumlichkeiten ein Stelldichein geben. Die drei Herren haben nämlich neben der hygienischen Sorgfaltspflicht ein wesentlich ernsteres Problem zu lösen. Ihre Toilette ist Treffpunkt homophil orientierter Geschäftsleute der näheren Umgebung, die sich immer wieder zur gemeinsamen Triebabfuhr in die Kabinen der Toiletten begeben. Da sie das Tageslicht scheuen, begeben sie sich in den Untergrund, um die versteckten Impulse ihres Privat- und Sexuallebens auszuleben. Jason, Reynolds und Ez nennen und bezeichnen die spezielle Klientel als “Reptilien”. Diese Vertreter der “besseren” Gesellschaft verwandeln sich im Untergrund in gierige Raubtiere mit dem Wunsch, ihre triebfixierte Natur ausleben zu können. Reynolds erkennt die sich eben noch der gegenseitigen Fellatio widmenden Männer dann am Tageslicht als treu sorgende und Kinderwagenschiebende Ehemänner wieder. Den drei Musketieren der Toilette liegt dabei allerdings (und Gott sei Dank) nichts ferner, als die bei ihnen verkehrenden Männer moralisch zu ächten und zu verurteilen. Die Existenz dieser unterirdischen Lust bringt vielmehr ein ökonomisches Problem für die drei Angestellten mit sich. Amüsant sind hierbei die regelmäßigen Besuche von Mrs. Steerhouse, der Vertreterin des städtischen Betreibers der Herrentoilette. Sie entspricht dem Modell “alte Jungfer” und bleibt dabei doch very british, wenn sie mit den Klomännern in ihrer Kabine Tee trinkt. Allerdings ist sie über die Umtriebe in der Herrentoilette not amused, und so wird, wenn auch auf sehr noble Weise, den drei Bediensteten mit Schließung der Örtlichkeit gedroht, wenn die Zweckentfremdung der Toiletten nicht unterbunden werden kann.

Für Reynolds, Jason und Ez stellt sich also die Frage, wie man dafür sorgen kann, dass die “Reptilien” ihren Rückzugsort aufgeben. Die drei Herren werden aber nicht nur handgreiflich, auch psychologisch arbeiten sie an der Lösung ihres Problems. Eine (wenn auch defekte) Überwachungskamera wird über den Kabinen angebracht, ein Schild an den Kabinen warnt die potentiellen Triebtäter. Letztendlich sind die drei erfolgreich: die Toiletten werden von der unerwünschten Klientel gemieden. Ein Erfolg des kleinen Mannes? Wäre Collins hier stehen geblieben, wäre der plot zu banal, nur lebend von einem hellen Moment einer Idee. Die korrekte Erfüllung der Vorgaben der Verwaltung hat für Reynolds, Jason und Ez nicht die erwarteten positiven Folgen, ganz im Gegenteil. Mrs. Steerhouse stellt vielmehr fest, dass die Nutzung der Toiletten stark zurückgegangen ist und deshalb kaum noch Gewinn erwirtschaftet worden ist. Aus diesem Grund wird die Belegschaft nicht für ihren heldenhaften Einsatz belobigt, sondern auf zwei Beschäftigte reduziert. Jason, den es sowieso zurück ins sonnige Jamaika zieht, opfert sich freiwillig und verlässt den kleinen Fäkalkosmos. Die U-Bahn-Toilette soll dann geschlossen werden, Ez und Reynolds aber legen ihr Geld zusammen und pachten die Räumlichkeiten, um die Toilette auf eigene Rechnung weiterführen zu können. Warnschild und Kamera werden abgehängt, ein Kondomautomat aufgehängt.

So far, so good. So what? Was bleibt von diesem spielerischen Entwurf eines Romans? Die Feststellung, dass moralische Bedenken gegenüber ökonomischen Bedingungen immer irrelevant sein werden? Die Spaltung der menschlichen Existenz in dionysisches (Toilette und Trieb) und apollinisches Prinzip (Mrs. Steerhouse?) und der bigotte und verlogene Umgang mit dem jeweils nicht Erwünschten? Die Frage nach dem Umgang mit Gastarbeitern und deren Missbrauch im ach so aufgeklärten New Britain? Ein hintergründiger Appell für die Privatisierung staatlicher Unternehmen? Nein, all dies sucht man hier wohl vergeblich. Nur zwanghaft lässt es sich aus der Tiefe des Romans ans Tageslicht zerren. Dies liegt nicht nur daran, dass auf Charakteristik und Figurenkonstellation zu wenig Zeit und Mühe verwendet worden ist. Anscheinend ging es Collins auch gar nicht um die Vermittlung einer Botschaft oder der Organisation eines Romankosmos, sondern lediglich um die Verwirklichung einer netten Idee. Ob das zu tadeln oder zu loben ist, kann man getrost dem Urteil jedes Lesers überlassen. Allerdings bleibt doch das ungute Gefühl, dass hier einer, der talentiert dazu wäre, aus einem Gedankenblitz eine strukturierte und gehaltvolle Welt zu formen, aus unerfindlichen Gründen damit zufrieden ist, ein Fragment zu erstellen, Tiefgang gar nicht herstellen will oder nur zu faul dazu ist?! In der Tat würde man hier Reich-Ranicki zustimmen: Jede Kurzgeschichte wird heute als Roman deklariert, um Gehalt vorzutäuschen und Käufer zu werben. Ansonsten bleibt nur zu hoffen, dass Collins nicht ein Mehmet Scholl der Literatur ist: talentiert, aber doch zu sehr filou und Lebemann, um sein Talent zu veredeln. Insgesamt: als netter Nachtisch zu empfehlen.

 

Bruno Dillmann

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