In der Fortsetzung des letzten Posts, noch eine Zeitbetrachtung.
Mein Verhalten dieser fälschlicherweise mit absolutem Wert belehnten Zeit gegenüber ist ambivalent: beim Zurückschauen beklage ich bitter das Entfliehen der Zeit. Ich möchte sie zurückrufen oder doch wenigstens ihr weiteres Entfliehen aufhalten.
Wenn ich jedoch in die Zukunft blicke, möchte ich die Zeit so rasch wie möglich verfließen sehen, denn ich kann das Sich-Öffnen des verlorenen Paradieses kaum mehr erwarten. Wenn ich mir irgendeine Epoche meines vergangenen Lebens ins Gedächtnis zurückrufe, erlebe ich sie ganz anders als damals. Denn jetzt, in der Erinnerung, bin ich frei von jenem stürmischen Verlangen nach einer besseren Zukunft, von dem ich damals besessen war, das mich dem Augenblick entzog und mich daran gehindert hatte, ihn voll zu leben. Nur so erklärt sich mein Zurückverlangen nach einer Zeit, die ich im Grunde gar nicht bewusst genießen konnte.
Doch in dem Maße, als mein Verständnis durch die richtige Unterweisung geweckt wird, vollzieht sich in mir eine Veränderung. Ich beginne zu begreifen, dass meine angeborene, unbegrenzte Sehnsucht von der Erscheinungswelt nichts zu erwarten hat, selbst dann nicht, wenn ich deren höchste und weltumfassende Stufe vor Augen habe. Während ich das, was ich seid eh und je erwarte, bisher fälschlicherweise in dieser oder jener Vorstellung verkörpert sah, begreife ich nun, dass es nichts anderes als das Verstehen/Erkennen ist.
Ich begreife, dass dieses Erkennen (Satori) nicht als eine Verbesserung dessen, was mir jetzt und hier vertraut ist, aufgefasst werden darf, so kühn ich mir diese auch denken mag. Es kann nicht in der Aufhebung einer unaufhebbaren Dualität bestehen, kann nicht die stufenweise Läuterung von etwas „Gutem” sein, das reingewaschen würde von allem Bösen. Es ist vielmehr der Zugang zu „etwas”, was über allem Dualismus steht und was diesen Dualismus aufhebt. Natürlich bin ich außerstande, mir dieses “Etwas” vorzustellen, ich muss hinnehmen, dass es sich jeder Vorstellung oder Verbildlichung entzieht, dass es seiner Natur nach vollkommen verschieden ist von allem, was ich bis heute kenne.
Verständnis richtig verstanden
Wenn mein Verständnis wirklich tief geht, so führt es nicht zu einer neuen Erwartung des Bewusstseins, die dann auf etwas Unvorstellbares gerichtet wäre; denn es gibt überhaupt keinen Bewusstseins-Ablauf ohne Vorstellung, und selbst die Vorstellung von etwas Unvorstellbarem ist noch immer ein Bild.
Das richtige Verständnis führt also nicht zu einer neuen bewussten Erwartung, die sich von der früheren Erwartung nur formal unterschiede. Diese neue Erwartung entsteht nicht In der Oberflächenschicht unseres Bewusstseins, sondern in der Tiefenschicht des Seelischen, wo sie ein Gegengewicht gegenüber der früheren, aufs Vorstellbare gerichteten Erwartung bildet und diese dadurch neutralisiert.
Das richtige Verständnis lässt tief in mir eine Sehnsucht aufkeimen, die meiner angeborenen Sehnsucht entgegengesetzt ist und sie ergänzt.
Es ist, als würde angesichts meiner natürlichen Forderung nach Bejahung innerhalb der Grenzen meiner individuellen Eigentümlichkeit die neue Forderung geboren, diese Bejahung nicht länger zu erwarten. Was auf diese Weise entsteht, ist in sich selbst genauso unzulänglich wie das, was vorher da war. Doch wird ein Augenblick kommen, wo die beiden für sich selbst ungenügenden Pole im „Großen Zweifel”, von dem das Zen spricht, ihr Gleichgewicht finden und uns dadurch den Zugang zum Verständnis ermöglichen werden. Es verhält sich damit genauso, als wären wir mit nur einem offenen Auge zur Welt gekommen und müssten uns nun anstrengen, auch das zweite zu öffnen, um dadurch endlich das „Sich-öffnen des dritten Auges” zu erreichen.
Hat auch diese neue, aus dem Verständnis hervorgegangene Erwartung im Unterschied zu der natürlichen, aus der unsere bewusste Sehnsucht aufsteigt, ihren Sitz im Unbewussten, so ist es uns doch nicht untersagt (wie im übrigen ja nichts untersagt ist), unser geistiges Erlassungsvermögen bewusst anzustrengen, um diese neue Erwartung richtig zu verstehen. (Selbstverständlich wollen wir diese geistige Anstrengung nicht als systematische Methode zur Erlangung der absoluten Verwirklichung empfehlen.)
Es ist und bleibt alles ein Geschehen, das durch Achtsamkeit den Weg zum Verstehen ebnet.
Neue Erwartungen
Diese neue Erwartung — man könnte sie auch Erwartung des Verständnisses nennen —,ist eine auf etwas Unvorstellbares, durchaus Neues gerichtete Sehnsucht, eine Sehnsucht, die nichts sucht, was ihr schon bekannt und vertraut ist. Bei dem Versuch, mich in diesen Erwartungszustand zu versetzen, trifft mein geistiges Bewusstsein auf verschiedenartige vorstellbare Wahrnehmungen, die sich ihm dar bieten wollen und die es wieder verwirft.
Da diese zurückgewiesenen Wahrnehmungen entweder außer mir oder in mir ihren Sitz haben (Aspekte der Außenwelt oder innere Zustände), hält ihr Verschwinden meine Erwartung in der Schwebe zwischen diesen beiden Bereichen. Meine Erwartung befindet sich weder außer mir noch in mir, sie haftet weder an einem möglicherweise wahrgenommenen Objekt noch an einem möglicherweise wahrnehmenden Subjekt.
Die Erwartung haftet an der Subjekt und Objekt verbindenden Wahrnehmung selbst. Doch ist eben diese Wahrnehmung selbst nicht wahrnehmbar, sie ist wie ein Punkt ohne festen Ort und ohne Ausdehnung.