Der ältere Herr wäre noch rüstig, wenn da nicht die Sache mit dem Knie wäre. Er humpelt ein wenig, als ich ihn in den Gesprächsraum führe.
“Das Knie?” frage ich.
“Ja.” sagt er und legt dabei akkurat seinen Mantel über die Stuhllehne und seinen Hut auf den Tisch. Seine Akte verrät mir, dass er bald seinen zweiundachtzigsten Geburtstag feiern würde. “Es muss jetzt mal gemacht werden…” sagt er, als er sich auf den unbequemen Holzstuhl setzt. “Ich brauche meine Mobilität.” Er stockt. Ich sehe seine Unterlagen durch. Er nimmt ein Mittel gegen Bluthochdruck ein, weitere Vorerkrankungen gibt er nicht an.
“Sie sind ja bemerkenswert gesund für ihr jugendliches Alter!” sage ich mit einem aufmunternden Lächeln.
“Wenigstens das bin ich… Wissen Sie, ich habe eigentlich gar keine Zeit, mich operieren zu lassen, meine Frau…” er stockt wieder.
“Was ist mit ihrer Frau?” hake ich nach.
In seinen Augen sammelt sich etwas Wasser, aber seine Stimme ist weiterhin fest. “Sie hat Alzheimer. Schon seit Jahren. Es ist schrecklich. Ich kümmere mich Tag und Nacht um sie. Deshalb habe ich das mit dem Knie so lange rausgeschoben. Aber es tut immer mehr weh, und so bin ich ihr ja auch keine Hilfe…”
Ich schiebe die Akte auf dem Tisch vor und zurück. “Und wie haben Sie das jetzt gelöst?”
“Kurzzeitpflege.” bringt er gepresst hervor. “Das wollte ich ihr nicht antun. Ich hoffe, ich bin schnell wieder fit. Aber was soll ich denn machen?”
“Haben Sie Kinder?” frage ich.
“Ja. Einen Sohn.” Sein Blick verfinstert sich. “Aber der lebt dreihundert Kilometer entfernt und er hat auch seine Familie… Was soll er schon machen?” Ich höre Verbitterung in seiner Stimme, übergehe das aber.
“Sie brauchen sich nicht schuldig führen. Sie haben auch ein Recht auf ein Leben.” sage ich schließlich.
“Tue ich aber.” Er blickt mich mit großen traurigen Augen an. “Was denken Sie denn?”
“Wie lange geht das denn nun schon so?” versuche ich, die Schuldfrage zu umschiffen. Er überlegt kurz.
“Sieben Jahre. Meine Frau war immer so aktiv, wissen Sie… Sie ist auch ein paar Jahre jünger als ich. Ich hätte nie gedacht…” er beendet den Satz nicht. Ich schweige. “Sie war erst fünfundsechzig, als es anfing. Ich habe es eigentlich gar nicht so gemerkt. Manchmal schien sie nicht mehr so gut an Dinge zu erinnern, aber sie hat das immer weggelacht und irgendwie überspielt. Es ist mir wirklich nicht aufgefallen. Jedenfalls nicht so, dass ich gedacht hätte, dass das der Anfang von Alzheimer sein könnte. Sie ging Mittwochs immer zum Tennisspielen, wissen Sie?” Er blickte kurz auf. “Wir leben ja auf dem Land, und der Tennisclub ist ein paar Dörfer entfernt. Sie ist mit dem Auto gefahren. Das hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren gemacht. Jedenfalls rief mich eines Tages die Greta an. Johannes, sagte sie, die Maria, also meine Frau, die Maria steht hier auf dem Parkplatz und fragt, wie sie nach Hause kommt. Sie sagt, sie könne sich nicht an den Weg erinnern.” Er sieht mir jetzt direkt in die Augen. “Können Sie sich das vorstellen? Sie ist die Strecke seit Jahren gefahren, sie ist in der Gegend aufgewachsen. SIE würden den Weg finden, ohne ihn je gefahren zu sein!” Ich schlucke. Den Rest der Geschichte kann ich mir ausmalen. “Ich habe mir dann ein Taxi genommen und habe sie abgeholt. Und er darauffolgenden Woche haben wir einen Neurologen aufgesucht… und dann dauerte es nicht mehr lange, bis wir die Diagnose hatten – Alzheimer.” Er seufzte. “Die ersten drei oder vier Jahre waren noch ganz ok. Aber jetzt geht es eigentlich gar nicht mehr. Sie weiß nicht, wer sie ist, wo sie ist, und oft weiß sie auch nicht, wer ich bin. Sie hat gute Tage, da erkennt sie mich, aber oft weiß sie nur, dass ich derjenige bin, der immer da ist. An manchen Tage siezt sie mich sogar. Wenn sie überhaupt spricht…” Eine unendliche Traurigkeit liegt in seinem Blick.
“Haben Sie schon darüber nachgedacht, sie in ein Heim zu geben?” Jetzt straffen sich seine Schultern..
“Auf keine Fall! Wir sind seit zweiundfünfzig Jahren verheiratet. Das kann ich ihr nicht antun!”
Jetzt seufze ich. Diese und ähnliche Konversationen habe ich schon so oft geführt. “Vielleicht können Sie sich Hilfe holen? Von einem Pflegedienst?”
Seine Schultern fallen wieder nach vorne. Er sieht aus wie jemand, der langsam einsieht, dass er einen Kampf verlieren wird. “Ja… wenn ich aus der Reha zurück bin, dann werde ich mal mit meinem Hausarzt darüber sprechen, denke ich…”
Ich sehe wieder auf die Akte. Mache ein paar Notizen und schiebe sie ihm hin. Er unterschreibt die Papiere blanko. Meine Worte zur Anästhesie winkt er energisch ab.
“Danke, Doktor.” sagte er, während er sich wieder Hut und Mantel überzieht. “Aber es muss ja gemacht werden.” Dann reicht er mir die Hand und verlässt den Raum. Sein Gang ist aufrecht und wirkt irgendwie würdevoll. Ich lausche noch lange seinen Schritten, als er den Flur hinuntergeht.