Der Handelsmann
Es lebte einmal in einem fremden und fernen Land vor langer, langer Zeit ein erfolgreicher und sehr angesehener Handelsmann.
Er hatte einen Sohn, der ebenfalls sehr tüchtig war. Der Vater schien sehr stolz auf ihn und zufrieden mit ihm gewesen zu sein. Sie verbrachten viel Zeit miteinander und redeten viel über geschäftliche Dinge.
Eines Tages aber, als der Vater schon sehr alt geworden war, erkrankte er plötzlich.
Auf dem Sterbebett sagte er: "Sohn, ich bin immer zufrieden mit Dir gewesen und Du hast mir niemals Schande oder Kummer bereitet und Du bist mir durch all diese vielen Jahre immer treu zur Seite gestanden.
Ich war stolz auf Dich, aber wirklich stolz hätte ich auf Dich sein können, wenn ich Dich gekannt hätte. Es betrübt mich unendlich, dass wir niemals während dieser vielen Geschäftsjahre nicht wirklich Zeit miteinander verbracht haben.“
Der Sohn widersprach seinem Vater und sagte zu ihm: „All diese Jahre waren wir zusammen und haben viel miteinander geredet und das Geschäft zur Hochblüte gebracht. Schau doch, wie angesehen und reich Du jetzt bist. Es gibt keinen einzigen Handelsmann in dieser großen Stadt und im Umkreis von 15 Tagesreisen, der so viel Einfluss und Ansehen besitzt wie Du!"
Der Vater lächelte und sagte sehr betrübt: „Mein Sohn, Du irrst! Den größten Reichtum, den habe ich verloren. Du hast es noch immer nicht verstanden!"
Der Vater schien jetzt sehr müde und traurig zu sein und schlief ein. Der Sohn wusste, dass sein Vater immer recht hatte, auch wenn er ihn nicht immer verstand und dachte daher über die Worte seines Vaters nach. Soviel er auch darüber nachdachte, sie ergaben aber keinen Sinn für ihn und verwirrten ihn nur noch mehr.
Bevor er ihn noch fragen konnte, verstarb er und hinterließ ihm ein mächtiges Handelsimperium und ein Rätsel. Er wuchs heran, heiratete und seine Frau schenkte ihm über die Zeit viele Kinder.
Jeden Abend, wenn er zuhause war, saß er auf Vaters Veranda und grübelte über Vaters letzte Worte nach.
Viele Jahre vergingen und seine Kinder wurden älter und verließen eines nach dem anderen das Haus und es wurde ruhiger. Eines Tages fragte ihn seine Frau, was ihn so betrübte. Er erzählte ihr die Geschichte und sie redeten die ganze Nacht über vergangene Zeiten.
Plötzlich verstand er die Worte seines Vaters und seine alten Augen fingen zu funkeln und zu leuchten wie die Sterne am Himmel.
Er verstand nun endlich das, was ihm sein Vater zu erklären versuchte: dass Stolz alleine, basierend nur auf Leistung, ohne menschliche Beziehung nicht viel wert ist und von nur sehr kurzer Dauer ist.
Obwohl er sich an keine einzige Situation erinnern konnte, dass er seinen Vater jemals unsicher oder schwach gesehen hätte und ihn dafür immer schon sehr verehrte und bewunderte, sah er nun, wie viel Angst er und auch sein Vater hatten, sich gegenseitig zu enttäuschen und damit ihren Stolz zu verlieren.
Seine Frau lächelte und strich ihm über das graue Haar. Sie saßen bis zum Morgengrauen auf der Veranda und beobachteten gemeinsam den Sonnenaufgang.
Die Nacht darauf hatte er einen langen Traum, in dem er diese übermächtige Angst überwand und ein längst überfälliges Gespräch mit seinem Vater führte. Er fand endlich seinen Frieden und lebte noch viele Jahre und wurde sehr, sehr alt.
Noch heute wird berichtet, dass er seinen großen Kindern und seinen kleinen Enkelkindern in der Abenddämmerung immer rätselhafte und lehrreiche Geschichten aus vergangenen Zeiten erzählte.“
Unbekannter Autor
Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt