Woran leidet die demokratische Opposition Irans und wie ist ein realistischer Einigungsprozess möglich?

»Der Citoyen ist ein höchst poli­ti­sches Wesen, das nicht sein indi­vi­du­el­les Interesse, son­dern das gemein­same Interesse aus­drückt. Dieses gemein­same Interesse beschränkt sich nicht auf die Summe der ein­zel­nen Willensäußerungen, son­dern geht über sie hin­aus.« (Jean-Jacques Rousseau)

Dawud Gholamasad

Dawud Gholamasad

von Dawud Gholamasad

Es gibt keine Demokratie ohne Demokraten, wohl aber viele Demokraten ohne Demokratie. Sie zu ver­ei­ni­gen, ist die gegen­wär­tige Hauptaufgabe der demo­kra­ti­schen Oppositionellen. Denn jeder, der wis­sen will, weiß inzwi­schen, dass die wei­tere Existenz des theo­kra­ti­schen Totalitarismus im Iran auf die feh­len­den poli­ti­schen Alternativen zurück­zu­füh­ren ist. Denn das Regime hat der­ma­ßen abge­wirt­schaf­tet, so dass es sich ange­sichts des zuneh­men­den Legitimationsverlusts nur gewalt­sam auf­recht­er­hal­ten kann. Die Erfahrungen der blu­ti­gen Unterdrückung der »grü­nen Bewegung« mani­fes­tie­ren des­halb nicht nur die Unbeugsamkeit der Obrigkeit im Iran vor demo­kra­ti­schen Forderungen. Sie bestä­ti­gen auch den gerin­gen Organisationsgrad der Oppositionellen als Bedingung der Möglichkeit des Über­le­bens des Regimes trotz sei­nes erheb­li­chen Legitimationsverlustes wie sie sich in der »Grünen Bewegung« mani­fes­tierte. Dieses Nachhinken der Selbstorganisation der demo­kra­ti­schen Opposition Irans ist nicht nur auf die bru­tale Unterdrückung jeg­li­cher oppo­si­tio­nel­ler Regung im Iran zurück­zu­füh­ren. Denn die Auslandsiraner sind ja die­ser Gefahr nicht unmit­tel­bar lebens­ge­fähr­lich aus­ge­setzt.

Da der unter­schied­li­che Grad der Organisation zuun­guns­ten der Opposition die beste­hende Machtbalance zuguns­ten des Regimes als Garant sei­nes Über­le­bens mani­fes­tiert, stellt sich die Frage nach den sozio- und psy­cho­ge­ne­ti­schen Aspekten der Organisationsprobleme der demo­kra­ti­schen Opposition. Denn eine effek­tive Organisation der Opposition ist eine unver­zicht­bare Machtquelle, wenn der Wille zur Gestaltungsmacht der Demokraten wei­ter­hin besteht.  Eine ange­mes­sene Diagnose die­ses Problems könnte der erste Schritt zur Über­win­dung der beste­hen­den Zersplitterung der demo­kra­ti­schen Opposition sein. In die­sem Beitrag möchte ich daher kurz erklä­ren, warum diese Zersplitterung und Zerstrittenheit der demo­kra­ti­schen Oppositionellen als Folge ihrer man­geln­den Konsensfähigkeit ein Nachhinkeffekt der Demokratisierung des sozia­len Habitus der Opposition  ist. Die Über­win­dung die­ses Habitusproblems[1] ist daher eine unab­ding­bare Voraussetzung der effek­ti­ven Organisation der Opposition.

Die Zersplitterung und man­gelnde Konsensfähigkeit als Nachhinkeffekt der Demokratisierung des sozia­len Habitus.

Dazu bedarf es einer kri­ti­schen Selbstdistanzierungsfähigkeit, die bewusst geför­dert wer­den muss. Denn eine der gemein­sam geteil­ten Defizite der ira­ni­schen Opposition ist ihre mehr oder weni­ger man­gelnde selbst­kri­ti­sche Distanzierungsfähigkeit, die eine Einsicht in Eigenanteil bei der Entstehung der beste­hen­den Misere erschwert. Sie führt, mit ande­ren Worten, zu einem man­geln­den Verantwortungsbewusstsein für ihren jeweils eige­nen Beitrag zur Entstehung und Erhaltung der beste­hen­den poli­ti­schen Verhältnisse im Iran.  Deswegegen wird ver­drängt, dass die Entstehung der »Islamischen Republik« auch ein Nachhinkeffekt der Demokratisierung ihres eige­nen sozia­len Habitus ist. Sie ver­ges­sen, dass nicht nur ihre schreck­li­che Toleranz gegen­über der nach­re­vo­lu­tio­nä­ren Hinrichtungen son­dern auch die Verteufelung jeg­li­cher demo­kra­ti­scher Forderung als »Verwestlichung« und  »Liberalismus« zur Etablierung des theo­kra­ti­schen Totalitarismus im Iran als eine insti­tu­tio­nelle Ent-Demokratisierung beige­tra­gen haben. Denn ein Vergleich der vor- und nach­re­vo­lu­tio­nä­ren Verfassungen bezeugt diese insti­tu­tio­nelle Ent-Demokratisierung und die sie beglei­tende De-Zivilisierung[2] der ira­ni­schen Staatsgesellschaft. Damit wur­den die Jahrzehnte lange Bemühungen der ira­ni­schen »Konstitutionalisten« seit der »kon­sti­tu­tio­nel­len Revolution« zur Einführung und Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit leicht­sin­nig einem schein­ba­ren »Anti-Imperialismus« des Khomeinismus geop­fert, was zur suk­zes­si­ven Eliminierung aller oppo­si­tio­nel­len Kräfte und Gleichschaltungsversuche des Alltagslebens im Iran führte. Dabei wurde diese suk­zes­sive Unterdrückung gene­rell tole­riert und von Manchen sogar aktiv unter­stützt. Wie sind aber diese insti­tu­tio­nelle Reversion und die schreck­li­che Toleranz gegen­über der insti­tu­tio­na­li­sier­ten Menschenrechtsverletzungen zu erklä­ren?

Diese soziale Umkehrung unter­streicht die Reversibilität sozia­ler Prozesse, die jeden Determinismus und jede teleo­lo­gi­sche Geschichtsauffassung empi­risch wider­legt. Sie war nur mög­lich, weil die Mehrheit der Iraner und vor allem der Opposition gegen das Schahregime die vor der Revolution ein­ge­klag­ten Menschen- und Grundrechte für ihre poli­ti­schen Zwecke bloß instru­men­ta­li­sier­ten. Sie waren noch nicht ver­in­ner­licht bzw. zu ihrer »zwei­ten Natur«, d.h. zu ihrem unver­äu­ßer­li­chen »sozia­len Habitus»[3] gewor­den und als sol­ches Verhalten steu­ernd. Aus die­sem Grunde ist die »Islamische Republik« ein Nachhinkeffekt der Demokratisierung des sozia­len Habitus der Iraner in ihrem Transformationsprozess von ehe­ma­li­gen »Untertanen« zum Staatsbürger, ange­sichts zuneh­men­der »funk­tio­na­ler Demokratisierung« im Sinne einer effek­ti­ven Verschiebung der Machtbalance zwi­schen den Regierenden und Regierten zuguns­ten der Letzteren als Bedingung der Möglichkeit eines revo­lu­tio­nä­ren Umsturzes des Schahregimes. Denn die Einführung der »Konstitution« als  »insti­tu­tio­nelle Demokratisierung«, die der »kon­sti­tu­tio­nel­len Revolution« folgte, bedeu­tete kei­nes­wegs eine »Institutionalisierung der Demokratie« und eine zuneh­mende Zivilisierung des sozia­len Habitus der Regierenden und Regierten vor allem im Sinne der Verschiebung der Balance zwi­schen der Fremd- und Selbstzwänge zuguns­ten der letz­te­ren - weil Institutionen erst dann zu zeit­lich, sach­lich und sozial gene­ra­li­sierte Verhaltenserwartung wer­den und als sol­che die nor­ma­tive Struktur einer Gesellschaft bil­den, wenn sie die Persönlichkeitsstruktur der invol­vier­ten Menschen geprägt haben. In die­sem Falle hät­ten die ein­ge­klag­ten Menschen- und Grundrechte als ein »kom­plex fak­ti­scher Verhaltenserwartungen, die im Zusammenhang einer sozia­len Rolle aktu­ell wer­den und durch­weg auf sozia­len Konsens rech­nen kön­nen« kei­nen instru­men­tel­len Charakter für die Opposition gegen das Schahregime gehabt, wenn sie zur Grundhaltung der Mehrheit der Iraner gewor­den wäre.[4] Die ver­fas­sungs­mä­ßig ver­an­ker­ten Grundrechte seit der »kon­sti­tu­tio­nel­len Revolution« wären nur dann »sub­jek­tive Rechte«, wenn sie emo­tio­nal ver­an­kerte Rechte und durch Habitualisierung zur sozia­len Gepräge der Mehrheit der Iraner gewor­den wären. Dann wäre die »Demokratie« nicht nur eine Herrschaftsform son­dern auch eine Lebensform, denn im Demokratisierungsprozess ver­än­dern sich all­mäh­lich die gemein­same gesell­schaft­li­che Ausprägung des indi­vi­du­el­len Verhaltens, der Sprache und Denkweise, der Gefühlslage und vor allem der Gewissens- und Idealbildung der invol­vier­ten Menschen. Aus die­sem Grunde ist die Entstehung der nach­re­vo­lu­tio­nä­ren theokratisch-totalitären Herrschaft, die einen Untertanengeist vor­aus­setzt, ein Nachhinkeffekt der Demokratisierung des sozia­len Habitus der Mehrheit der Iraner – ein­schließ­lich der sich demo­kra­tisch begrei­fen­den und selbst ernann­ten oppo­si­tio­nel­len Führer und Aktivisten.

Eine insti­tu­tio­nelle Demokratisierung der ira­ni­schen Staatsgesellschaft wäre dem­nach ein Nachholeffekt des sozia­len Habitus der Mehrheit der Iraner, wie sie sich ansatz­weise mas­sen­haft  in der »Grünen Bewegung« mani­fes­tierte. Sie signa­li­sierte die Transformation der Untertanen in mehr oder weni­ger rechts­be­wusste Staatsbürger, die auf ihr Stimmrecht insis­tier­ten. Denn genauso wie ein Tagelöhner zu einem Lohnarbeiter wird, wenn er nicht nur for­mell son­dern reell unter das Kapital unter­ge­ord­net ist, d.h. wenn er Normen abs­trak­ter Arbeit ver­in­ner­licht hat; ver­wan­delt sich ein for­mel­ler »Bürger« in einen reel­len rechts­be­wuss­ten Staatsbürger, wenn er gewisse »Bürgertugenden« ver­in­ner­licht hat. In die­sem Sinne ver­wan­deln sich die Rechtsnormen als Fremdzwänge mehr oder weni­ger in Selbstzwänge, wenn sie zur »zwei­ten Natur«, zum Persönlichkeitsmerkmal der Menschen gewor­den sind. Nur so ver­wan­deln sich die Menschen- und Grundrechte als Institutionen in gene­ra­li­sierte Verhaltenserwartungen, für deren Respektierung sich Menschen ein­zu­set­zen bereit sind. So eta­blie­ren sie sich als Ethos der Menschen- und Grundrechte.

Aus die­sem Grunde scheint mir die Zersplitterung der demo­kra­ti­schen Oppositionellen und ihr man­gelnde Konsensfähigkeit auf ihre man­gel­haf­ten »Bürgertugenden« zurück­zu­fuh­ren sein. Die Demokratisierung ihrer gemein­sa­men Orientierung im Sinne der Demokratisierung ihrer Glaubensaxiome und Werthaltungen, die sich in ihrer ent­spre­chen­der effek­ti­ver Vereinigung mani­fes­tie­ren würde, wäre ein Nachholeffekt ihres Bürgersinns, ihres Rechtssinns und Zivilcourage, sowie ihres Gerechtigkeitssinns und ihrer Urteilskraft und nicht zuletzt ihres Gemeinsinns und ihrer demo­kra­ti­schen Integrität.[5] Diese Grundhaltungen, die den für sein Gemeinwesen enga­gier­ten, guten, viel­leicht sogar vor­treff­li­chen Bürger aus­zeich­nen, sind für die demo­kra­ti­schen Organisationen der Opposition unver­zicht­bare demo­kra­ti­schen Tugenden und bei Erweiterung der Demokratie um eine reich ent­wi­ckelte Zivilgesellschaft auch repu­bli­ka­ni­sche Tagende.

Zu man­geln­den poli­ti­schen Ethik in der Tradition der ira­ni­schen Opposition als Habitus-Problem.

»Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jeder­mann ein all­ge­mei­nes Gesetz sein kann.« (Kant)

Das Ethos der Menschenrechte als rechts­mo­ra­li­sche Grundlage jeg­li­cher demo­kra­ti­schen Organisationsform der Gesellschaft und Opposition setzt aber eine »poli­ti­sche Ethik« zumin­dest bei den Oppositionsführern vor­aus. Die Voraussetzung der Einsicht in der Notwendigkeit einer »poli­ti­schen Ethik«, die die Politik unter nor­ma­ti­ven Gesichtspunkten, ins­be­son­dere mora­li­schen Gesichtspunkte unter­sucht und bestimmt, ist aber die Unterscheidung zwi­schen Staatsbürger (Citoyen) und Wirtschaftsbürger (Bourgeoise). Diese Unterscheidungsvermögen setzt die Einsicht vor­aus, dass  eine Staatsgesellschaft neben sons­ti­gen unmit­tel­ba­ren und sym­bo­lisch ver­mit­tel­ten Bindungen der Menschen mit­ein­an­der nicht nur aus »beruf­li­chen Bindungen« besteht, son­dern auch aus »staatlich-politischen Bindungen« mit ihrer jeweils rela­ti­ven Autonomie. Soziologisch betrachtet[6] sind die Entwicklung der staatlich-politischen Organisation der Gesellschaft und die der beruf­li­chen Positionen kom­ple­men­täre Aspekte  der Entwicklung von ein und der­sel­ben Funktionszusammenhänge. Sie sind die Differenzierung- und die Integrierungsaspekte der Entwicklung des glei­chen Interdependenzgeflechtes, die rever­si­bel sind und zuwei­len ungleich­zei­tig ver­lau­fen kön­nen. Gerade die­ser Integrierungsaspekt der Entwicklung mani­fes­tiert sich in jene Schutz- und Trutzeinheit, die  als  Staat zur legi­ti­men Organisationsform der Gesellschaft und Objekt gemein­sa­mer affek­ti­ver Bindungen der »Bürger« (Citoyen) wird, für deren Verteidigung sie sogar ihr Leben zu opfern bereit sind. Zugleich ist aber der Staat als eine poli­ti­sche Einheit, eine Herrschaftsform, die sich aus den Machtkämpfen auf allen Integrationsebenen der viel­stö­cki­gen Staatsgesellschaft erge­ben. Sie auf die Verteilung der »öko­no­mi­schen« Chancen, d.h. auf „Klassenkämpfe“ zu redu­zie­ren, über­sieht nicht nur  alle ande­ren Hautspannungsachsen der Gesellschaft, wie die Konflikte zwi­schen Regierenden und Regierten, die Geschlechterkonflikte, Generationenkonflikte, eth­ni­sche und kon­fes­sio­nelle Konflikte sowie Konflikt zwi­schen wis­sen­schaft­li­che und vor­wis­sen­schaft­li­che Orientierungen und nicht zuletzt  die zwi­schen­staat­li­chen Konflikte;  sie über­sieht auch die Notwendigkeit der effek­ti­ven zusam­men­fas­sen­den Organisationen auf höhe­ren Integrationsebenen der Gesellschaft, der natio­na­len oder Parteiorganisationen für die Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfe um die staat­li­chen Machtmonopole, deren Kontrolle die Rahmenbedingungen aller ande­ren Konfliktsaustragung bestim­men.

Die Einsicht in die­sem Zusammenhang setzt aber die Über­win­dung der durch die Tudeh-Partei im Iran gepräg­ten Vorstellung vor­aus, man könne die Machtmittel und die Funktion des Staates als Derivat der Machtmittel und der Funktionen der bür­ger­li­chen Unternehmergruppe erklä­ren, also als Derivat des Klasseninteresses jener Berufsgruppen, denen der Begriff Wirtschaft und des Wirtschaftlichen seine spe­zi­fi­sche Bedeutung ver­dankt. Denn dar­aus ergab eine Reduktion der »mar­xis­ti­sche Ethik« auf »Klassenethik«, mit dem hege­mo­nia­len Anspruch der »Arbeiterklasse unter der Führung der Partei«, mit den ver­eh­ren­den Folgen im »real exis­tie­ren­den Sozialismus«. Ohne die Korrektur die­ser Reduktion aller gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Tätigkeiten auf  bestimmte Formen der Interdependenzen, die mit den spe­zia­li­sier­ten beruf­li­chen Tätigkeiten von Unternehmerschichten aufs engste ver­bun­den sind und eine Eigengesetzlichkeit und eine gewisse Autonomie gegen­über allen ande­ren gesell­schaft­li­chen Tätigkeiten besit­zen, bleib der Stellenwert der emo­tio­na­len Bindungen der Menschen an die staatlich-politische Organisation der Gesellschaft als Objekt ihrer gemein­sa­men Identifizierung fol­gen­träch­tig unter­schätzt; damit auch der Stellenwert des »Bürgersinns« als Inbegriff ver­schie­de­ner Bürgertugenden und als Antriebskraft der poli­ti­schen Institutionen, wie der poli­ti­schen Organisationen.

Die Vernachlässigung einer rea­li­täts­an­ge­mes­se­nen poli­ti­schen Ethik, als Mittel der Begründung der Politik unter nor­ma­ti­ven, ins­be­son­dere mora­li­schen Gesichtspunkte, war des­halb eine der Gründe der ver­hee­ren­den poli­ti­schen Orientierungen zuguns­ten des Khomeinismus, die zur Entstehung und Erhaltung des Totalitarismus im nach­re­vo­lu­tio­nä­ren Iran führte; sie war ebenso der Grund für die schreck­li­che Toleranz gegen­über den nach­re­vo­lu­tio­nä­ren Hinrichtungen, bis man selbst daran glau­ben musste. Ohne die­ses Habitus-Problem wäre die schreck­li­che Toleranz gegen­über der suk­zes­si­ven und zuwei­len blu­ti­gen Eliminierung der zu »Feinde der Revolution« erklär­ten Andersdenkende, Andersglaubende, Anderslebende und Oppositionellen undenk­bar gewe­sen. Auch die gegen­wär­tige Zersplitterung der Opposition ist u. a. auf die mehr oder weni­ger man­gelnde Fähigkeit zur mora­li­schen Begründung ihrer jewei­li­gen Opposition gegen das Regime und ihrer jewei­li­gen poli­ti­schen Orientierung zurück­zu­füh­ren. Ohne eine poli­ti­sche Selbstbildung der Oppositionellen im Sinne einer ethi­schen Umorientierung und des damit zusam­men­hän­gen­den Bewusstseins des Stellewertes des „Bürgersinnes“ bei den poli­ti­schen Auseinandersetzungen, ist daher eine poli­ti­sche Bildung im Sinne einer effek­ti­ven Organisation der demo­kra­ti­schen Opposition unmög­lich. Ohne einen expli­zi­ten Rückgriff auf poli­ti­sche Tugenden einer demo­kra­ti­schen Organisation, ohne ein begrün­de­tes recht­mo­ra­li­sches Orientierungsmittel, fehlt der Opposition auch jeg­li­che mora­li­sche Legitimationsgrundlage. Erst wenn die demo­kra­ti­sche Opposition in der Lage ist alter­na­tive Moralprinzipien zu gegen­wär­tig herr­schen­der „theo­lo­gi­scher Ethik“ anzu­bie­ten, kann sie sich legi­ti­mer Weise als eine Alternative gegen­über dem theo­kra­ti­schen Totalitarismus behaup­ten. Ohne alter­na­tive Moralprinzipien als obers­tes Kriterium, als letz­ter Maßstab prak­ti­schen Argumentierens, das impli­zit oder expli­zit in jeder Begründung sin­gu­lä­rer oder gene­rel­ler mora­li­scher Urteile in Anspruch genom­men wird, lei­det die sich demo­kra­tisch begrei­fende Opposition unter einer Orientierungslosigkeit. Als sys­tem­stif­ten­des Begründungsprinzip eines Normengefüges ist ein Moralprinzip die unab­ding­bare Voraussetzung jeder poli­ti­schen Organisation, »weil die Sitten sel­ber aller­lei Verderbnis unter­wor­fen blei­ben, so lange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer rich­ti­gen Beurteilung fehlt»[7]. Der »kate­go­ri­sche Imperativ»[8] Kants könnte daher, als obers­tes Kriterium der mora­li­schen Beurteilung mensch­li­cher Willensbestimmung, dem oppo­si­tio­nel­len »Wille zur Macht« eine Orientierungshilfe bie­ten. Damit ent­steht für die Opposition eine mora­li­sche Grundlage, die ihnen erlaubt, jen­seits ihrer ideo­lo­gi­schen Orientierungen, gemein­sam nach dis­kur­siv kon­sens­fä­hi­gen Interessen zu han­deln. Sie ist des­halb die unab­ding­bare Voraussetzung der gemein­sa­men poli­ti­schen Organisation der oppo­si­tio­nel­len Strömungen.

Damit würde eine der Haupthindernisse der Zersplitterung der demo­kra­ti­schen Opposition über­wind­ba­rer wer­den, die in ihrem gegen­sei­ti­gen Misstrauen besteh. Sie ist auf ihre gemein­same Erfahrung der all­ge­mein herr­schen­den mora­li­schen Prinzipienlosigkeit der poli­tisch Handelnden zurück­zu­füh­ren; eine Prinzipienlosigkeit, die einer auf blo­ßen Machterwerb und Machterhalt ori­en­tier­ten Politik zugrunde liegt.[9] Zwar ist »Politik« immer »Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung»[10]; sie muss aber beglei­tet sein durch eine Moralkritik, wel­che die herr­schende Moral auf ihren ver­bor­ge­nen Zweck hin­ter­fragt und so die Unmittelbarkeit ihrer Geltung erschüt­tert. Im Sinne einer selbst­kri­ti­schen Vergangenheitsbewältigung ist eine sol­che Moralkritik eine der ers­ten Schritte zur Herausbildung eines gemein­sam geteil­ten Kanons mora­li­scher Prinzipien, die als poli­ti­sche Tugenden das gemein­same Orientierungsmittel der demo­kra­ti­schen Opposition bil­den kann. Dazu gehört unver­zicht­bar der Staatsbürgersinn, als per­so­nale Aspekt der Demokratisierung der Staatsgesellschaft, des­sen Förderung das Ziel der gemein­sa­men Anstrengungen der demo­kra­ti­schen Opposition sein soll.

[1] Zu Demokratisierungsprobleme der weniger entwickelten / islamisch geprägten Gesellschaften vergl. meine diversen Beiträge in: http://gholamasad.jimdo.com

[2] Zivilisation im soziologischen Sinne teilt nicht die übliche Funktion des Begriffes als Ausdruck des Selbstbewusstseins der okzidentalen Gesellschaften. Um Zivilisation im soziologischen Sinne zu verstehen, muss man sich von den alltäglichen Wertungen des Begriffes distanzieren. Als ein mehrere Generationen umfassender Prozess weist der Begriff auf eine strukturierte Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in eine ganz spezifische Richtung hin. Dieser Prozess ist immer begleitet von Gegenschüben. Er vollzieht sich als Ganzes ungeplant; aber er vollzieht sich nicht ohne eine eigentümliche Ordnung. Als eine gerichtete Veränderung des sozialen Habitus der Menschen zeigt Norbert Elias in seiner Untersuchung „über den Prozess der Zivilisation“, wie etwa von verschiedensten Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelungen des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird. Wie jeder soziale Prozess ist auch Zivilisierungsprozess reversibel. Diese Umkehrbarkeit manifestiert sich in entsprechende De-Zivilisierung des Verhaltens und Erlebens der Menschen, wie wir sie im nachrevolutionären Iran erlebt haben.

[3] Der Begriff „sozialer Habitus“ bezieht sich, wie der verwandte Begriff der sozialen Persönlichkeitsstruktur, auf ein spezifisches und mehr oder weniger individualisiertes Gepräge, das jeder einzelne Mensch- trotz seiner Verschiedenartigkeit- mit anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt. Dieses gemeinsam geteilte Gepräge der interdependenten Einzelnen bildet gewissermaßen den Mutterboden, aus dem diejenigen Merkmale entstehen, durch die sich ein einzelner Mensch von anderen Menschen unterscheidet, mit denen er eine Gesellschaft bildet. Doch dieses Gepräge ist ein Wandlungskontinuum, wie es sich aus der Prozessnatur der einzelnen Menschen und ihrer Interdependenzen ergibt. Um sich ein Bild von diesem individualisierbarem sozialen Gepräge zu machen, wäre es sinnvoll die gemeinsame Sprache als Kommunikationsmittel und die jeweiligen individuellen Sprachstiele in Erinnerung zu rufen. [4] Diesen Zusammenhang übersieht auch Niklas Luhmann, (Grundrechte als Institution; ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1974, S.12f.)weil er auch nicht zwischen Institutionalisierung der Grundrechte und Grundrechte als Institutionen unterscheidet; er setzt sie sogar gleich. [5] Vergl. Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 190ff. & ders. Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger, München 2004, S.82ff. [6] Vergl. Norbert Elias, Was ist Soziologie, München 1986, S. 151ff. [7] Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in Kant Werke in zwölf Bänden , Insel Verlag Wissbaden 1956, Bd. VII,S. 14 (BA X) [8] Also „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant, a.a.O., S. 66 (BA, 52) [9] „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“,  Kant, a.a.O., S. 60 (BA 66) [10]  Max Weber, Staatssoziologie, Berlin 1956, S. 27

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