2004 startete der Styria-Verlag offenbar eine Reihe „Biografische Bibliothek“, die über den ersten Band nie hinausgekommen ist. Dieser, geschrieben von Wolfgang Straub, widmet sich Carl Ritter von Ghega.
In Venedig geboren
Nach dem Band „Österreichs Spuren in Venedig“, den ich vor Kurzem gelesen habe, ist das die ideale Ergänzung, denn Ghega wurde in Venedig geboren, und zwar 1802. Seine Jugend und Ausbildung fiel folglich in die Zeit der österreichischen Herrschaft in Venedig, und so war es logisch, dass er zum österreichischen Eisenbahningenieur wurde, als den man ihn gemeinhin kennt.
Sein Vater war ein arsenalotto, also ein im streng geheimen Arsenal beschäftigter Angestellter. Der Sohn sollte ihm nachfolgen, schlug aber, als hoch begabter junger Mann, eine technische Ausbildung ein und wurde Ingenieur für Straßen-, Brücken-, Wasser- und schließlich Eisenbahnbau. Die Bereiche waren damals noch nicht ganz ausdifferenziert, sodass ein Mann wie Ghega sich zeitlebens mit allen diesem Dingen beschäftigen konnte. Die Eisenbahn wurde ab 1835 allerdings zum bedeutendsten Innovations- und Erfolgsgebiet, und Ghega in diesem Fach zu einem der führenden Köpfe weltweit.
Welches Antriebssystem?
Während die Anfangszeit der Eisenbahn in Österreich in den Händen von Privatunternehmern wie Rothschild lag, wendete sich bald das Blatt, als man erkannte, dass ein vernünftiges Eisenbahnnetz ohne staatliche Generalplanung und -aufsicht nicht entstehen würde und die Privaten zu sehr auf ihren Profit und weniger auf das verkehrsmäßige Gemeinwohl schauen würden. In dieser Phase schlug Ghegas große Stunde, er wurde zum obersten Eisenbahnbeamten des Kaiserreichs und mischte mit bei der Generalplanung aller österreichisch-ungarischen Bahnlinien oder bei der Frage, welche Antriebsformen verwendet werden sollten. Damals war nämlich noch nicht ausgemacht, dass die Dampflokomotiven, denen Ghega die größten Chancen gab, die Triebfahrzeuge der Zukunft sein würden, sondern man dachte auch an Pferde (wie bei der Pfeirdeeisenbahn Budweis – Linz – Gmunden), an das untaugliche und heute vergessene System der „Atmosphärischen Bahn“, bei dem die Fahrzeuge durch in ein Rohr eigreifende Kolben, die vom im Rohr erzeugten Vakuum vorangezogen würden, bewegt werden sollten, oder im Gebirge an steile Schienenwege mit Seilzügen. Legendär ist der von Ghega veranstaltete Lokomotivwettbewerb für die Semmeringstrecke, bei dem sich keine der vier angetretenen Loks als wirklich tauglich erwies, der aber immerhin soviel Erkenntnisse brachte, dass der Ingenieur Wilhelm Engerth dann eine taugliche Semmering-Tenderlok kostruieren und bauen lassen konnte.
Formvollendet in die Landschaft eingebettet
Ghega bereiste England und Amerika, um die dortigen Eisenbahnsysteme kennenzulernen und zu studieren. In Amerika lernte er Eisenbahnen von höchster Effizienz bei gleichzeitig geringen Kosten kennen. Auch er selbst strebte natürlich preisgünstige Bahnbauten an, war aber andererseits Ästhet genug, um seine Bahnlinien formvollendet in die Landschaft einzubetten und anstelle der amerikanischen Holzbrücken, wie man sie aus Wildwestfilmen heute noch kennt, die schönen Ziegelviadukte zu bauen, die seine Bahnlinien zu Sehenswürdigkeiten werden ließen.
Semmeringbahn
Die Strecke, mit der er am meisten zu tun hatte, war die Südbahn von Wien nach Triest. Ghega ist im öffentlichen Bewusstsein der Erbauer der Semmeringbahn von Gloggnitz nach Mürzzuschlag. Man stellt ihn sich als den Ingenieur vor Ort vor, der im Gelände herumstapft, Trassen plant und Bauarbeiter-Scharen befehligt. Diese Vorstellung ist aber falsch. Denn Ghega war damals, um 1850, bereits der oberste Eisenbahn-Beamte und nur noch selten tatsächlich auf den Baustellen zu sehen. Planung und Ausführung der Semmeringstrecke oblagen nicht nur ihm, sondern seinem ganzen Team von Ingenieuren, dessen führender Kopf er allerdings war. Die enge Assoziation Ghega – Semmering ist jedoch erst auf posthume Mythenbildung zurückzuführen.
Ghega plante und baute auch gewaltige Viadukte zwischen Laibach und Triest, die allerdings leider nicht erhalten sind. Sie hätten der bis heute weltgrößten Eisenbahnbrücke aus Ziegeln, der sächsischen Göltzschtalbrücke, durchaus Konkurrenz gemacht, wenn schon nicht in der Höhe, so doch in der Länge. Leider erfährt man im Buch nicht, weshalb sie nicht erhalten sind. Ich vermute: Kriegszerstörungen.
Revolution 1848
Der Autor geht auch der Frage nach, inwieweit die Revolution von 1848 und der Semmeringbahnbau zusammenhängen: Anzunehmen ist, dass der österreichische Staat 1848 die Gelegenheit gerne ergriff, tausende Arbeiter aus Wien an den Semmering wegzuschaffen, wo sie halbwegs friedlich arbeiteten, statt auf die Barrikaden zu steigen. Die Verhältnisse, unter denen die Arbeiter vegetierten, wären allerdings durchaus Anlass zu möglichen Protesten gewesen, denn sie waren schlicht menschenunwürdig. Ghega verschwendete darauf keinen Gedanken, das war Sache der Subunternehmer, die die einzelnen Bauabschnitte errichteten.
Trockener Typ
Ghega war kein von Mitgefühl, ja von Gefühlen überhaupt überströmender Mensch. Sein Privatleben hielt er offenbar für uninteressant, dementsprechend hob er keine Briefe auf, schrieb kein persönliches Tagebuch, und seine einzige autobiographischen Äußerung ist eine „Diensttabelle“, in der er aufzählt, welche Ausbildungen, Dienststellen und Planungsaufgaben er wann absolvierte bzw. innehatte. Ein eher trockener Typ also – obwohl er als in Gesellschaft angenehm und unterhaltend geschildert wird.
Dem Staat ging bald nach 1850 immer mehr das Geld aus, sodass die Doktrin der staatseigenen Eisenbahn aufgegeben werden musste. Die staatseigenen Bahnen wurden nach und nach an Private verkauft, bis schließlich alles verkauft und der Posten des „Generalinspektors der Staatsbahnen“ sinnlos war. Ghega hätte, zumal er keineswegs ein Gegner privater Eisenbahnen war, wohl problemlos als hoher Manager bei einer Privatbahn einsteigen können, tat dies aber nicht. Er wurde 1859 ins Finanzministerium übernommen, über seine Tätigkeit dort ist allerdings nichts bekannt, weil er sie wahrscheinlich nie ausgeübt hat. Denn schon 1860 erlag er der „Lungensucht“, also vermutlich Tuberkulose.
Ghega-Mythos
Nach seinem Tod begann langsam die Bildung eines nicht ganz realistischen Ghega-Mythos. 1869 errichtete man am Semmering ein Ghega-Denkmal, Reden wurden geschwungen, Artikel veröffentlicht. Im Lauf der Zeit wurden vier Roman über Ghega geschrieben, allesamt von heute vergessenen Autoren. Allerdings ist die Semmeringbahn auch in einem literarisch hochwertigen Roman ausführlich geschildert, in Heimito von Doderers „Die Wasserfälle von Slunj“. Und die älteren Österreicher kennen sein Portrait noch vom 20-Schilling-Schein.
Die Biographie ist gut lesbar geschrieben, vermittelt ein überblicksmäßiges Bild der Entwicklung des Eisenbahnwesens in Österreich bis etwa 1860 und natürlich ein sehr detailreiches von Ghega selbst. Die Abbildungen ergänzen den Text, ohne ihn zu überwuchern. Am Schluss befindet sich neben den üblichen Verzeichnissen auch ein tabellarischer Lebenslauf. Dem fadengehefteten und mit einem Lesebändchen versehenen Band ist eine eineinhalb Meter lange „Perspectivische Ansicht der Semmeringbahn von Payerbach bis zum Semmeringtunnel“ beigegeben.
Wolfgang Straub: Carl Ritter von Ghega. Biografische Bibliothek Styria Band 1. Styria-Verlag, Wien 2004. 238 Seiten.
Bild: Wolfgang Krisai: Dampflok 52 als Museumslok in Simbach am Inn. Tuschestift, 2010.