"El que vive de esperanzas muere de desesperación.
Wer von der Hoffnung lebt, stirbt an Verzweiflung."
- Spanisches Sprichtwort -
Am heutigen Dienstagabend kam Entwarnung. Die Aktion wurde offiziell für beendet erklärt, nachdem man sie bereits am Samstagabend ausgesetzt hatte. Da hieß es noch, man würde die "Abwehraktion" zunächst einmal für drei Tage ruhen, verschnaufen lassen - zu viele hatten sich dem peinlichen Treiben verweigert, als dass man einfach hätte weitermachen können. Einstweilen dachte auch ich, sie würden ihren Rabatz morgen wieder aufnehmen; ich war nicht schlecht verblüfft, als ich jüngst, vor etwas mehr als einer Stunde, aus der Abendzeitung erfuhr, dass morgen keine Wachposten mehr den Einkauf behindern sollen.
Kein SA-Geleit mehr wie kürzlich, wie an jenem Samstag eben; es war der 1. April des laufenden Jahres '33, an dem man nicht gemütlich zum Juden um die Ecke gehen konnte, an dem das Einkaufen von Röhms Einfaltspinseln sabotiert wurde. Überall SA-Posten! Vor jüdischen Geschäften, Anwaltsbüros und Warenhäusern - "Kauft nicht beim Juden!", skandierten sie und einige belämmerte Zivilisten taten wie ihnen geheißen; was wiederum heißt: sie taten es eben nicht, beim Juden einkaufen. Gelegentlich rauschte ein Stein in Fensterscheiben und verwüstete die Auslage. Boykott nannten sie es - Judenboykott! Im ganzen Reich soll es so zugegangen sein, überall dieselbe Menagerie, entnahm ich der Zeitung. Dort stand auch, dass sich die Deutschen rege daran beteiligten. (Im Namen der nationalen Revolution erhob sich der deutsche Volkskörper: das Pathos ist mittlerweile wesentlicher Bestandteil der öffentlichen Sprache.) Von reger Beteiligung habe ich allerdings wenig bemerkt.
Ich habe es anders erlebt; ich hielt diesen Boykott bereits am Samstagnachmittag für einen Fehlschlag. Zahlreiche Kunden kümmerten sich gar nicht um die SA-Tölpel - diese waren auch nicht so grob, wie man das vielleicht annehmen möchte. Ich sah, wie ein Mann in ein jüdisches Geschäft ging, kurz darauf wieder herauskam und ostentativ mit seinem Einkaufstäschchen wedelte - und wie nahm der anwesende SA-Mann diesen demonstrativen Akt zur Kenntnis? Er zwinkerte dem Konsumdemonstranten amüsiert zu! So zwanglos fröhlich waren sicherlich nicht alle SA-Posten - aber es gab sie. Auch möchte ich nicht behaupten, dass die Juden ein gutes Samstagsgeschäft gemacht hätten - aber ein besseres, als es eine solche Konstellation eigentlich erlauben würde! Denn die Menschen beachteten in der Mehrzahl die braunen Türsteher wenig; sie wollten einkaufen, sich mit Waren eindecken.
Das war nicht nur stiller Protest, versteht sich. So ehrlich muß man dann schon sein. Es war vielerorts Pragmatismus oder Gleichgütligkeit. Viele wollten einfach nur den nötigen Einkauf tätigen - ihnen war einerlei, was da geschah. Den täglichen Einkauf zu politisieren: das mögen die wenigsten Leute, das geht ihnen gegen den Strich, weil sie plötzlich am Ladentisch zu einem staatstragenden Zeremoniell gezwungen werden, das ihnen bloß die knappe Zeit stiehlt. Ich bin mir außerdem sicher, dass viele derjenigen, die sich an den SA-Leuten vorbeidrückten, nicht mal besonders große Judenfreunde sind. Sie sind eher Freunde wohlfeiler, hochwertiger Waren; Freunde vorzüglicher Kundenberatung und freundlicher Aufwartung; Freunde des kurzen Einkaufsweges, der sie ganz unpolitisch und bar jeglicher rassistischer Intuitionen zum ansässigen Juden am Platz oder um die Ecke treibt. Aber so gleichgültig konsumierend waren durchaus nicht alle; ich habe gesehen, wie Leute ganz gezielt in ein jüdisches Geschäft marschierten; mir bekannte Leute, die sonst eigentlich kaum dort einkaufen - die eigentlich für sich einkaufen lassen, sonst nie ein Geschäft aufsuchen. Es war offensichtlich, dass man den SA-Trampeln und ihren Auftraggeber ein Schnippchen schlagen wollte.
Oh ja, es war Protest! Keiner mit Plakaten und Losungen: die waren auf der anderen Seite zu finden! Es lag Menschlichkeit in der Luft, man wollte dieses evidente Unrecht nicht dulden. Zivilcourage ergriff die einen, Konsumgewohnheit lenkte die anderen - und daraus erwuchs jene Stimmung, die den Boykott zum Zorn der Machthaber scheitern ließ. Es wunderte mich daher nicht, dass man am Abend die Veranstaltung beendete: zu beschämend war es für die Regierung, ein Volksspektakel zu inszenieren, bei dem die Mehrheit des Volkes - aus verschiedensten Beweggründen, das heißt: Nichtbeweggründen, denn sie haben sich ja eben nicht in die gewollte Richtung bewegt! - nicht mitmischen wollte.
Der Boykott gestaltete sich wirkungslos: und das schon am ersten Tag! Viel ist geschehen in den letzten Wochen: es brannte der Reichstag und politische Gegner der Nationalsozialisten wurden kassiert; Wahlen wurden nicht frei und geheim vollzogen, man mußte sich mit SA-Wahlhelfern um die Richtigkeit des Kreuzchens zanken - und jetzt auch noch dieser gescheiterte Boykott! Als man die Kommunisten einsperrte, rumorte es schon. An vielen Straßenecken wurde geschimpft, in der Straßenbahn wurde verächtlich von dieser Hitlerbande gesprochen. Schlimmer wurde das Gekeife noch, als die Wahllokale belagert wurden - dergleichen gab es ja schon seit Jahren, aber so penetrant und frech hat es sich selten gestaltet. Als dann die absolute Mehrheit trotz Einflussnahme verfehlt wurde, jubelten nicht wenige. Eine windige Stümpertruppe seien diese Nazis, hört man in jenen Wochen oft; Frechheit siege eben doch nicht immer. Und nun der Boykott, bei dem man sich blamierte, bei den man den stillen Protest vieler Reichsbürger anfachte.
Man sieht, es lohnt sich aufzustehen. Die Demokratie ist doch nicht gänzlich ausgestorben - sie ruht weiterhin in den Bürgern dieses Landes. Denn dort, wo Protest herrscht, da ist die Demokratie noch heimisch; wo Protest ist, da ist demokratische Gesinnung! Das macht mich zuversichtlich. Diese Regierung wird kein langes Stelldichein mit diesem Land haben. Der Protest nährt diese Vorhersage, er macht aus der schemenhaften Hoffnung eine erkennbare Gewissheit. Der Boykott ist zwar gescheitert, aber man darf darüber nicht vergessen, was hinter einer solchen Maßnahme an Verächtlichkeit und Menschenhaß steckt - man bedenke nur, was für eine Katastrophe das gegeben hätte, wenn der Boykott Früchte getragen hätte! Die Menschen wollten so ein Szenario nicht, haben intuitiv erkannt, dass sie nun aufstehen, dass sie trotzdem - oder eher deswegen - zum Juden aufgrund Warenerwerbs gehen müssen. Dergleichen sind unverzeihliche Vorgehensweisen der Politik, die von den Bürgern nicht vergessen werden. Man wird sie sich merken und abermals protestieren - dann gegen die Regierung selbst womöglich! Niemand wird einen dann gestürzten Herrn Hitler nochmals die Regierungsbefugnis erteilen. An den Juden, das prognostiziere ich mit einiger Sicherheit, wird sich Hitler nicht mehr die Finger verbrennen: er kann sich den Unmut der Menschen nicht leisten - man vergesse nie: Protest erzielt Wirkung! Und sei es nur stiller Protest, pragmatischer Protest: er zeitigt Resultate! Protest ist Demokratie - daher mein Optimismus: denn wo Menschen noch Courage zeigen, wo sie sich mit der politischen Macht nicht gemein machen, da setzt sich die demokratische Gesinnung letztlich durch.
Nachtrag: Am heutigen Freitag, nur drei Tage nach dem endgültigen Abbruch des Judenboykotts, wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen. Was zunächst banal klingt, soll dem Nationalsozialismus unliebsame Staatsbedienstete in den Ruhestand versetzen - und natürlich auch Juden. Vorallem Juden! Schlimmer kann es nicht mehr kommen - und das ist die eine gute Nachricht! Die andere ist, dass dieses Vorgehen sicherlich den Unmut weiter schürt. Diese Regierung schafft sich gerade selber ab!
Wer von der Hoffnung lebt, stirbt an Verzweiflung."
- Spanisches Sprichtwort -
Am heutigen Dienstagabend kam Entwarnung. Die Aktion wurde offiziell für beendet erklärt, nachdem man sie bereits am Samstagabend ausgesetzt hatte. Da hieß es noch, man würde die "Abwehraktion" zunächst einmal für drei Tage ruhen, verschnaufen lassen - zu viele hatten sich dem peinlichen Treiben verweigert, als dass man einfach hätte weitermachen können. Einstweilen dachte auch ich, sie würden ihren Rabatz morgen wieder aufnehmen; ich war nicht schlecht verblüfft, als ich jüngst, vor etwas mehr als einer Stunde, aus der Abendzeitung erfuhr, dass morgen keine Wachposten mehr den Einkauf behindern sollen.
Kein SA-Geleit mehr wie kürzlich, wie an jenem Samstag eben; es war der 1. April des laufenden Jahres '33, an dem man nicht gemütlich zum Juden um die Ecke gehen konnte, an dem das Einkaufen von Röhms Einfaltspinseln sabotiert wurde. Überall SA-Posten! Vor jüdischen Geschäften, Anwaltsbüros und Warenhäusern - "Kauft nicht beim Juden!", skandierten sie und einige belämmerte Zivilisten taten wie ihnen geheißen; was wiederum heißt: sie taten es eben nicht, beim Juden einkaufen. Gelegentlich rauschte ein Stein in Fensterscheiben und verwüstete die Auslage. Boykott nannten sie es - Judenboykott! Im ganzen Reich soll es so zugegangen sein, überall dieselbe Menagerie, entnahm ich der Zeitung. Dort stand auch, dass sich die Deutschen rege daran beteiligten. (Im Namen der nationalen Revolution erhob sich der deutsche Volkskörper: das Pathos ist mittlerweile wesentlicher Bestandteil der öffentlichen Sprache.) Von reger Beteiligung habe ich allerdings wenig bemerkt.
Ich habe es anders erlebt; ich hielt diesen Boykott bereits am Samstagnachmittag für einen Fehlschlag. Zahlreiche Kunden kümmerten sich gar nicht um die SA-Tölpel - diese waren auch nicht so grob, wie man das vielleicht annehmen möchte. Ich sah, wie ein Mann in ein jüdisches Geschäft ging, kurz darauf wieder herauskam und ostentativ mit seinem Einkaufstäschchen wedelte - und wie nahm der anwesende SA-Mann diesen demonstrativen Akt zur Kenntnis? Er zwinkerte dem Konsumdemonstranten amüsiert zu! So zwanglos fröhlich waren sicherlich nicht alle SA-Posten - aber es gab sie. Auch möchte ich nicht behaupten, dass die Juden ein gutes Samstagsgeschäft gemacht hätten - aber ein besseres, als es eine solche Konstellation eigentlich erlauben würde! Denn die Menschen beachteten in der Mehrzahl die braunen Türsteher wenig; sie wollten einkaufen, sich mit Waren eindecken.
Das war nicht nur stiller Protest, versteht sich. So ehrlich muß man dann schon sein. Es war vielerorts Pragmatismus oder Gleichgütligkeit. Viele wollten einfach nur den nötigen Einkauf tätigen - ihnen war einerlei, was da geschah. Den täglichen Einkauf zu politisieren: das mögen die wenigsten Leute, das geht ihnen gegen den Strich, weil sie plötzlich am Ladentisch zu einem staatstragenden Zeremoniell gezwungen werden, das ihnen bloß die knappe Zeit stiehlt. Ich bin mir außerdem sicher, dass viele derjenigen, die sich an den SA-Leuten vorbeidrückten, nicht mal besonders große Judenfreunde sind. Sie sind eher Freunde wohlfeiler, hochwertiger Waren; Freunde vorzüglicher Kundenberatung und freundlicher Aufwartung; Freunde des kurzen Einkaufsweges, der sie ganz unpolitisch und bar jeglicher rassistischer Intuitionen zum ansässigen Juden am Platz oder um die Ecke treibt. Aber so gleichgültig konsumierend waren durchaus nicht alle; ich habe gesehen, wie Leute ganz gezielt in ein jüdisches Geschäft marschierten; mir bekannte Leute, die sonst eigentlich kaum dort einkaufen - die eigentlich für sich einkaufen lassen, sonst nie ein Geschäft aufsuchen. Es war offensichtlich, dass man den SA-Trampeln und ihren Auftraggeber ein Schnippchen schlagen wollte.
Oh ja, es war Protest! Keiner mit Plakaten und Losungen: die waren auf der anderen Seite zu finden! Es lag Menschlichkeit in der Luft, man wollte dieses evidente Unrecht nicht dulden. Zivilcourage ergriff die einen, Konsumgewohnheit lenkte die anderen - und daraus erwuchs jene Stimmung, die den Boykott zum Zorn der Machthaber scheitern ließ. Es wunderte mich daher nicht, dass man am Abend die Veranstaltung beendete: zu beschämend war es für die Regierung, ein Volksspektakel zu inszenieren, bei dem die Mehrheit des Volkes - aus verschiedensten Beweggründen, das heißt: Nichtbeweggründen, denn sie haben sich ja eben nicht in die gewollte Richtung bewegt! - nicht mitmischen wollte.
Der Boykott gestaltete sich wirkungslos: und das schon am ersten Tag! Viel ist geschehen in den letzten Wochen: es brannte der Reichstag und politische Gegner der Nationalsozialisten wurden kassiert; Wahlen wurden nicht frei und geheim vollzogen, man mußte sich mit SA-Wahlhelfern um die Richtigkeit des Kreuzchens zanken - und jetzt auch noch dieser gescheiterte Boykott! Als man die Kommunisten einsperrte, rumorte es schon. An vielen Straßenecken wurde geschimpft, in der Straßenbahn wurde verächtlich von dieser Hitlerbande gesprochen. Schlimmer wurde das Gekeife noch, als die Wahllokale belagert wurden - dergleichen gab es ja schon seit Jahren, aber so penetrant und frech hat es sich selten gestaltet. Als dann die absolute Mehrheit trotz Einflussnahme verfehlt wurde, jubelten nicht wenige. Eine windige Stümpertruppe seien diese Nazis, hört man in jenen Wochen oft; Frechheit siege eben doch nicht immer. Und nun der Boykott, bei dem man sich blamierte, bei den man den stillen Protest vieler Reichsbürger anfachte.
Man sieht, es lohnt sich aufzustehen. Die Demokratie ist doch nicht gänzlich ausgestorben - sie ruht weiterhin in den Bürgern dieses Landes. Denn dort, wo Protest herrscht, da ist die Demokratie noch heimisch; wo Protest ist, da ist demokratische Gesinnung! Das macht mich zuversichtlich. Diese Regierung wird kein langes Stelldichein mit diesem Land haben. Der Protest nährt diese Vorhersage, er macht aus der schemenhaften Hoffnung eine erkennbare Gewissheit. Der Boykott ist zwar gescheitert, aber man darf darüber nicht vergessen, was hinter einer solchen Maßnahme an Verächtlichkeit und Menschenhaß steckt - man bedenke nur, was für eine Katastrophe das gegeben hätte, wenn der Boykott Früchte getragen hätte! Die Menschen wollten so ein Szenario nicht, haben intuitiv erkannt, dass sie nun aufstehen, dass sie trotzdem - oder eher deswegen - zum Juden aufgrund Warenerwerbs gehen müssen. Dergleichen sind unverzeihliche Vorgehensweisen der Politik, die von den Bürgern nicht vergessen werden. Man wird sie sich merken und abermals protestieren - dann gegen die Regierung selbst womöglich! Niemand wird einen dann gestürzten Herrn Hitler nochmals die Regierungsbefugnis erteilen. An den Juden, das prognostiziere ich mit einiger Sicherheit, wird sich Hitler nicht mehr die Finger verbrennen: er kann sich den Unmut der Menschen nicht leisten - man vergesse nie: Protest erzielt Wirkung! Und sei es nur stiller Protest, pragmatischer Protest: er zeitigt Resultate! Protest ist Demokratie - daher mein Optimismus: denn wo Menschen noch Courage zeigen, wo sie sich mit der politischen Macht nicht gemein machen, da setzt sich die demokratische Gesinnung letztlich durch.
Nachtrag: Am heutigen Freitag, nur drei Tage nach dem endgültigen Abbruch des Judenboykotts, wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen. Was zunächst banal klingt, soll dem Nationalsozialismus unliebsame Staatsbedienstete in den Ruhestand versetzen - und natürlich auch Juden. Vorallem Juden! Schlimmer kann es nicht mehr kommen - und das ist die eine gute Nachricht! Die andere ist, dass dieses Vorgehen sicherlich den Unmut weiter schürt. Diese Regierung schafft sich gerade selber ab!