Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine
Nachrichtentheater von Nicolas Stemann
Eine Produktion der Wiener Festwochen, koproduziert mit dem Thalia Theater Hamburg
Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine. Nachrichtentheater von Nicolas Stemann (Foto: Armin Bardel)
Die Bühne wird von zwei gegenüberliegenden Zuschauerrängen flankiert. Während das Publikum Platz nimmt – ein Teil muss sich dabei über die Bühne zu den Sitzen bemühen – gehen die SchauspielerInnen in grau-beigen Overalls schon auf und ab. Sie tragen Kopfhörer und sind offenkundig dabei, Texte nachzusprechen. Das technische Equipment – mehrere Tische mit Computern, ein Key-Board und Mischpulte – ist für alle einsehbar seitlich an die Bühnenränder gerückt. Mit dabei ist eine kleine, mobile Kocheinheit, auf der tatsächlich in verschiedenen Töpfen etwas Essbares zubereitet wird. Das ist das Ambiente der „Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ von Nicolas Stemann in der Halle E des Museumsquartiers in Wien. In dieser Umgebung hat sich die Truppe um den deutschen Regisseur, der sich in Österreich auch wegen seiner Jelinek-Inszenierungen einen Namen gemacht hat, angeblich mehrere Tage lang einquartiert, um sich freiwillig einem nicht enden wollenden Informationsstrom auszusetzen. Ziel dieser Aktion ist die künstlerische Umsetzung und Verarbeitung all dieses medialen Inputs auf der Bühne, mit Einbeziehung des Publikums.
Was sind Nachrichten, was bewirken sie, können wir uns ihnen entziehen, ihren Wahrheitsgehalt überprüfen? Das sind Fragen, die Nicolas Stemann sich und seinem Ensemble stellt, wobei das aktuelle Tagesgeschehen gleich zu Beginn Eingang in die Vorführung findet. Abwechselnd werden kurze tagesaktuelle Nachrichten aus der ganzen Welt vorgetragen, zuerst von einzelnen SchauspielerInnen, später von einer ganzen Gruppe. Aber so asynchron, dass der Text nur mehr als Stimmengewirr wahrgenommen werden kann und er inhaltlich nicht mehr entzifferbar ist. Rasch wird klar, hier wird gespielt. Und das in mehrfacher Hinsicht. Auf der Bühne, in den Videoeinspielungen, in welchen das Ensemble über das Geschehen bei den Proben berichtet, mit dem Publikum. Aber auch mit dem Begriff „Nachrichten“ an sich, mit der Verortung von Wahrheit im globalen Nachrichtenstrom genauso wie im konstruierten Spiel auf der Bühne. Da werden Vorhänge wie doppelte Böden eingezogen, um dem Publikum jeglichen Realitätshalt zu entziehen, da vermischen sich Liveacts mit vorher Aufgezeichnetem, sodass die Fernsehmoderatorin getrost abseits der Kameras auf offener Bühne ersticken kann, ohne dass ihre Moderation auf den Bildschirmen gestört wird. Da werden Nachrichten in Sing-a-song-writer Manier oder auch ganz wie weiland bei Gustav Mahler in seinen Rückert-Liedern vorgetragen. Anstelle des Rückert-Textes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ intoniert die Sängerin „Ich bin gestorben im Weltgetümmel“ und schon rückt all das, was sie singt, vor allem der Inhalt ihres Textes, völlig in den Hintergrund und schiebt ihren Vortrag und die Musik auf ein künstlerisches Podest, dessen Textvermittlung nicht mehr relevant erscheint. Nachrichten werden kontextualisiert aufgenommen, das ist eine jener Hauptbotschaften, die an diesem Abend in mehrfacher Abwandlung vermittelt wird. Aber auch die Unmöglichkeit der Vermittlung von Wahrheit in Nachrichten. Peter Weibels Zitat „Nachrichten sind eine Veranstaltung zur Vermeidung kognitiver Dissonanz“ wird in einem Monolog erklärt, in welchem die Nachricht als etwas Vergangenes beschrieben wird, das unser Jetzt nicht in Bedrängnis bringt und deswegen nicht als beunruhigend wahrgenommen werden muss. Die Nachrichtenströme entzerren und verdichten sich an diesem Abend mehrfach, werden zeitweise durchschaubar und dann wieder so überfrachtet präsentiert, dass man ob ihrer Ballung aufgibt, sich zurücklehnt und dem wild gewordenen Geschehen auf der Bühne zusieht, ohne die dargebotenen Informationsstränge auch nur mehr im Geringsten wahrnehmen zu können. Wie in jenem Bild, in welchem eine Blasmusikkapelle (Post- und Telekom Musik Wien) zusätzlich zum agierenden Ensemble das Geschehen belebt. Wie außer Rand und Band schwirren Menschen und Requisiten auf kleinstem Raum und erzeugen eine Kakophonie, die klar macht: Nachrichten ohne Filter sind wertlos.
Doch wer bestimmt diese Filter, wer sortiert aus? Darauf kann auch Eugen Freund, einer der Anchor-Männer des ORF nicht wirklich Auskunft geben. Gemütlich sitzt er im Beinahe-Schlussbild mit anderen „Experten“ und dem Dramaturgen um ein Lagerfeuer, an welchem darüber diskutiert wird, wie nahe Nachrichten nun an der Wirklichkeit seien. Hier funktioniert die Metapher zur Talk-Show wunderbar, deren Realitätsgehalt das Publikum in den wenigsten Fällen hinterfragt. An jenem Punkt angelangt, kommt auch das analoge Twittern des Publikums zum Einsatz; jene grünen Zettelchen, auf welchen Nachrichten an die Bühnencrew übermittelt werden konnten. „Warum sitze ich immer auf der falschen Seite“ – dieser kleine anonyme Satz stellte dabei einen Höhepunkt dar, dessen Mehrdeutigkeit bestens zum Bühnengeschehen passte.
Am Kulminationspunkt der Realitätsverunsicherung, just zu jenem Zeitpunkt, der signalisiert, dass die Suche nach der Wahrheit zum absoluten Scheitern verurteilt sein muss, just hier gelingt Stemann ein kleines Bühnenwunder. Lässt er doch seine SchauspielerInnen in ein farbenfrohes Bild eintauchen, in welchem sie, ausgestattet mit grellen Fantasiekostümen, der Nachrichtenrealität entfliehen. Dabei heben sie zum Teil im wahrsten Sinne des Wortes ab und entschweben in den Himmel des Theaters. In jene Sphären, die für sie eine Realität darstellen und der sich das Publikum allabendlich weltweit bewusst aussetzt, um ebenfalls darin einzutauchen. Dem „Terror der Nachrichten“ setzt Stemann „den Gegenterror der Kunst“ und postuliert: „Kunst ist Wirklichkeit und Wirklichkeit ist Kunst“. Stemanns „Kommune der Wahrheit“ hat sich damit ganz einfach ihre eigene „Wirklichkeitsmaschine“ geschaffen, überdeckt damit aber zugleich viele Fragen, die zwar teilweise angerissen, nirgends aber erschöpfend beantwortet werden. Die flockige Inszenierung folgt dem Eingangstext des Programmheftes von Mark C. Taylor, Philosoph und ehemals enger Freund von Jacques Derrida, mit seiner Aussage: „Wenn Realität und virtuelle Realität immer ununterscheidbarer werden, wer kann sich dann sicher sein, was real ist und was nicht? Man muss dieses verunsichernde Phänomen aber nicht unbedingt als Bedrohung betrachten, die unter allen Umständen vermieden werden muss, man kann Unsicherheit und Ungewissheit auch als Ausdruck einer der Zukunft positiv zugewandten Perspektive verstehen, die die Sehnsucht am Leben hält. Die Herausforderung, der es treu zu bleiben gilt, besteht nicht in der Suche nach Erlösung, sondern darin, zu lernen, ohne Erlösung zu leben.“ Erlösung im Sinne einer endgültigen Erklärung zur Nachrichtenwahrheit kann danach die Kommune nicht geben. Eine Erlösung im Sinne einer eigenen Wahrheitsgestaltung jedoch schon. Wäre weniger mehr gewesen oder war von allem doch zu wenig da? Entlassen können die ZuseherInnen letztlich nur in ihre eigenen Realitätsentwürfe werden – aber was ist schon Realität?