Es ist wirklich ausgesprochen interessant, wenn man die typischen Quantenphysikalischen Erkenntnisse DIREKT von einem Atomphysiker liest. Joachim Schulz IST ein Atomphysiker und betreibt einen “Quantenwelt-Blog” auf den “Wissenslogs” von “Scilogs”. Dort sind eine Fülle von Wissenblos entstanden, wie “Scilogs”, “Brainlogs”, “Chronologs”, u. “Kosmologs”, die erneut von Blogbetreibern unterteilt sind. Sogenannte “Tagebücher der Wissenschaft”. Präsentiert wird das ganze vom “Spektrum der Wissenschaft”. Ihr werdet dort auf alle Fälle, stets etwas interessantes entdecken.
—————————————————
Wellenfunktionen und EPR-Paradoxon: Wir sind überall
von Joachim Schulz
In dem bekannten Volksmärchen von dem Hasen und dem Igel sagt der Igel (eigentlich ist es seine Frau): “Ick bün all dor.” Auf hochdeutsch heißt das: “Ich bin schon da.” Ich habe aber schon Kinderbücher gesehen, in denen die Fehlübersetzung lautet “Ich bin überall da.” So wenig das für den Igel stimmt, so sehr ist es der Fall für quantenmechanische Wellenfunktionen. In der Quantenwelt gibt es nichtlokale Effekte. Wie ist das gemeint?
Ein Igel ist nicht an mehreren Orten zugleich. Eine Wellenfunktion schon, selbst wenn sie zwei Teilchen beschreibt. Quelle: Wikipedia.
Nehmen wir die Wellenfunktion eines einzelnen Elektrons. Die Bewegung solch eines Teilchens wird durch die Schrödingergleichung beschrieben. Heraus kommt eine Wellenfunktion, deren Betragsquadrat als Wahrscheinlichkeit das Elektron irgendwo anzutreffen gedeutet wird. Recht bekannt ist das Doppelspaltexperiment: Man nehme eine Elektronenquelle, ein Blech mit zwei kleinen Spalten und einen Leuchtschirm. Bei schwacher Quelle wird man nun auf dem Leuchtschirm einzelne Lichtblitze sehen und wenn man sorgfältig ausmisst, wo die Lichtblitze auftreten, wird man eine Verteilung finden, die der Überlagerung zweier Wellen entspricht. Zweier Wellen, die je an einem der beiden Spalten entstanden sind und auf dem Schirm ein Muster von hellen und dunklen Streifen bilden. Wenn die Beschreibung des Vorgangs durch die Wellenfunktion vollständig ist, dann geschieht hier etwas eigenartiges: Jedes Elektron geht zugleich durch zwei Spalte. Elektronen werden nicht mehr als lokale Objekte mit einem Ort dargestellt. Sie sind nicht lokal. Sie sind an mehreren Orten gleichzeitig.
Nun gibt es in der Quantenwelt nicht nur Wellenfunktionen, die einzelne Objekte beschreiben. Manchmal braucht es eine Wellenfunktion für mehrere Elektronen. Ganz wichtig ist das für die chemischen Elemente in der Chemie. Viele Eigenschaften der komplizierteren Elemente, und das sind alle außer Wasserstoff, kann man nur erklären, wenn man die Elektronen als eine Viel-Teilchen-Wellenfunktion beschreibt.
Eine Viel-Teilchen-Wellenfunktion beschreibt nicht nur für jedes einzelne Teilchen die Wahrscheinlichkeit, es an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Zustand anzutreffen. Sie beschreibt außerdem Korrelationen, also bedingte Wahrscheinlichkeiten. Die Wahrscheinlichkeit eines der Teilchen am Ort X anzutreffen kann davon abhängen, ob ein anderes Teilchen am Ort Y angetroffen wird. Die Wahrscheinlichkeit das eine Teilchen in einem bestimmten Bewegungszustand anzutreffen, kann vom Bewegungszustand des anderen Teilchens abhängen.
Hat man es mit Zwei-Teilchen-Wellenfunktionen zu tun, so kann man zwei Fälle unterscheiden: Wenn die Wellenfunktion beider Teilchen in ein Produkt zweier Ein-Teilchen-Wellenfunktionen aufgelöst werden kann, dann sind die beiden Teilchen voneinander unabhängig. Sie sind unkorreliert. Ist diese Auflösung nicht möglich, so spricht man von verschränkten Teilchen. Messungen an einem Teilchen sind mit Messungen an dem anderen Teilchen korreliert. Und da es sich bei einer Wellenfunktion um eine über den Raum verteilte Konstruktion handelt, betrifft diese Korrelation auch Teilchen, die voneinander entfernt sind.
In der Standardinterpretation der Quantenmechanik gibt eine Wellenfunktion Wahrscheinlichkeiten von Messwerten an. Diese Messwerte werden erst im Moment der Messung, also durch den Messprozess erzeugt. Vorher ist die Wellenfunktion die vollständige Beschreibung des physikalischen Zustands. Das führt im Zusammenhang mit Zwei-Teilchen-Wellenfunktionen zu einem Problem. Erkannt und erstmals beschrieben haben dieses Problem die Physiker Albert Einstein, Boris Podolsky und Nathan Rosen. Nach den Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen wird es als EPR-Paradoxon bezeichnet.
Stellen wir uns zwei Teilchen in einem verschränkten Zustand vor, die sich voneinander entfernen und in einiger Entfernung von ihrem Entstehungsort vermessen werden. Fangen wir mit einem klassischen Analogon an: Man nehme zwei Kugeln, die bis auf die Farbe identisch sind, und zwei kleine identische Pappkartons. Eine Kugel sei blau, die andere rot. Nun lege man in jeden Karton eine Kugel, schließe die Kartons und mische sie. Dann schicke man einen Karton nach Hamburg, den andern nach München. Wir wissen nun nicht, welche Farbe ein hamburger Beobachter entdecken wird, wenn er den Karton öffnet, und welche Farbe ein münchner. Wir kennen also nicht den Ausgang jeder einzelnen Messung. Wir können nur sagen, dass der hamburger Beobachter mit 50% Wahrscheinlichkeit eine rote Kugel messen wird und mit 50% eine blaue. Wir kennen aber die Korrelation: Wenn der hamburger Beobachter ein blaue Kugel sieht, dann wird der münchner Beobachter eine rote sehen. Bevor einer der beiden Beobachter seinen Karton geöffnet hat, steht uns keine Information über die Farbe der jeweiligen Kugel zur Verfügung wohl aber über die Korrelation der Farben. Die Information über die Farbe der Kugeln ist aber selbstverständlich schon vor der Messung vorhanden. Eine der Kugel ist schon vor der Messung rot und die andere blau wir können es nur noch nicht wissen.
Anders sieht es die Quantenmechanik. Erzeugt man zwei verschränkte Photonen mit gegensätzlicher Polarisation, so weiß man, dass das eine Photon senkrecht polarisiert ist, wenn das andere waagerecht polarisiert ist. Die gemeinsame Wellenfunktion macht aber keine Aussage darüber, welches Photon welche Polarisation hat. Nach der Quantenmechanik existiert die Eigenschaft Polarisation der einzelnen Photonen vor der Messung nicht. Nur die Korrelation, also die Wenn-dann-Beziehung zwischen den Polarisationsrichtungen, ist in der quantenmechanischen Wellenfunktion bereits vorhanden.
Nimmt man nun einen Polarisator, der nur Licht einer bestimmten linaren Polarisation hindurchlässt, und hält ihn in den Strahlengang eines der Photonen, so kommt dieses Photon mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% hindurch. Es ist ja willkürlich polarisiert und der Polarisierer wirkt wie ein Filter der Wellenfunktion. Hinter dem Polarisator hat man eine linear polarisierte Welle mit halber Intensität. Nur die Hälfte der Wahrscheinlichkeit kommt durch. Und das gilt unabhängig davon, in welchen der beiden Lichtstrahlen man einen Polarisator hält, und unabhängig davon, wie man den Polarisator dreht.
Nehmen wir also eine Quelle von einzelnen Paaren verschränkter Photonen an. In zufälligen Intervallen entstehen in der Quelle je zwei Photonen, deren Polarisation korreliert aber unbestimmt ist. Jedes Photon eines Paares bewegt sich auf einem eigenen Pfad, zum Beispiel durch eine Glasfaser, durchläuft einen drehbaren Polarisator und wird dann mit hoher Effizienz detektiert. Die Detektoren dürfen beliebig weit auseinander stehen. Misst man nun die Wahrscheinlichkeit, mit der jeder Detektor ein Photon registriert, so erhält man für beide Detektoren stets 50%. Völlig unabhängig davon, wie die Polarisatoren gedreht sind.
Um nun ein perfektes Analogon zu den roten und blauen Kugeln oben zu erzeugen, können wir festlegen, dass die Polarisatoren immer zueinander im 90°-Winkel oder parallel stehen sollen. Es gibt nun nur je zwei Einstellungen für die Polarisatoren: waagerecht oder senkrecht. Und nun haben wir einen ganz analogen Fall: Wenn das Photon in ersten Pfad waagerecht polarisiert ist, ist das andere senkrecht polarisiert und umgekehrt. Wenn ein Polarisator waagerecht steht und der andere senkrecht, dann kommen immer entweder beide Photonen durch oder keines. Wenn beide Polarisatoren parallel zueinander stehen, kommt immer nur eines von beiden durch und das andere nicht.
Wie können wir nun wissen, ob die quantenmechanische Beschreibung vollständig ist? Gut, wir wissen vor der Messung nicht, ob ein einzelnes Photon durchkommen wird oder nicht. Wir wissen nur: wenn es in einem Arm waagerecht durchkommt, dann kommt es in dem anderen senkrecht. Die klassische Beschreibung wäre, dass jedes Photon schon an der Quelle die Polarisation mitbekommt, so wie oben jeder Karton schon seine farbige Kugel mitbekommt. Die quantenmechanische Beschreibung jedoch sagt, dass beide Photonen nur die Korrelation, nicht die tatsächliche Polarisation mitbekommen.
Hier setzten Einstein, Podolski und Rosen (EPR) an und schlossen, dass die Quantenmechanik unvollständig sein muss, denn mit der Messung an einem Photon muss instantan auch die Messung am anderen Photon so festgelegt werden, dass die Korrelation nicht verletzt wird. Das wäre die geisthafte Fernwirkung, die Einstein nie mochte. Die Nichtlokalität der Quantenwelt. Können wir ausschließen, dass nicht doch an der Quelle schon die Polarisation jedes einzelnen Photons feststeht und die Quantenmechanik das nur nicht beschreibt? Dann wäre die Quantenmechanik einfach eine unvollständige Theorie, die die Korrelationen richtig vorhersagt, aber die tatsächliche Realität der Photonen nicht beschreibt.
Ja, wir können im Prinzip ausschließen, dass alles klassisch und lokal vor sich geht. Man kann mit diesem Experiment zeigen, dass die Photonen tatsächlich nicht an der Quelle die Polarisation schon mitbekommen, wie sie dann an den Polarisatoren gemessen werden wird. Allerdings nicht wenn wir uns auf zwei Einstellungen der Polarisatoren beschränken. Dann ist das Ergebnis ja identisch zu den klassischen Kugeln. Die Unterscheidung zwischen klassischer und Quantentheorie geht nur mit mindestens drei Polarisationsrichtungen.
Ein Photon kann nicht nur waagerecht oder senkrecht schwingen, es kann beliebig polarisiert sein. Wenn ein waagerecht polarisiertes Photon auf einen waagerecht ausgerichteten Polarisator trifft, kommt es durch. Wenn es auf einen senkrecht ausgerichteten Polarisator trifft, wird es ausgefiltert. Wenn es aber auf einen 45° gedrehten Polarisator trifft, wird es mit 50% Wahrscheinlichkeit als 45° polarisiertes Photon hindurchkommen und mit 50% Wahrscheinlichkeit ausgefiltert werden. Wenn der Polarisator nun zum Photon nur 30% verdreht ist, kommt es drei von vier Mal durch und wird in einem Viertel der Fälle ausgefiltert. Die Durchkommwahrscheinlichkeit liegt beim Quadrat des Kosinus des Winkels zwischen ankommendem Photon und Polarisator. Aber nur wenn sich alles klassisch verhält. Im quantenmechanischen Fall hat das ankommende Photon ja noch keine Polarisation.
Im quantenmechanischen Fall gilt die Kosinus-Quadrat-Regel für den Winkel zwischen den beiden Polarisatoren in der Messung. Nicht für die einzelne lokale Messung. Und das macht in der Statistik einen Unterschied. Die klassische Variante, in der jedes einzelne Photon schon mit festgelegter Polarisation ankommt, ist eine stärkere Einschränkung und die Messungen müssen sich an die bellsche Ungleichung halten, eine mathematische Formulierung der statistischen Verteilung von Korrelationen zwischen den Messungen. Im quantenmechanischen Fall kann die Bellsche Ungleichung verletzt sein.
Schon 1972 wiesen S. J. Freedman, J. F. Clauser erstmals nach, dass die Ungleichung verletzt ist, der einfache klassische Fall die Realität also nicht richtig beschreibt. Der Ausgang einer Messung hängt nicht von einer Polarisation ab, die das einzelne Photon schon an der Quelle mitbekommen hat, sondern von der entfernten Messung. Die Quantenmechanik hat diesen Test gewonnen. Später wurde der Test immer weiter verbessert. Indem zum Beispiel die Entscheidung, welche Polarisation zu messen ist, erst gefällt wurde, nachdem die Photonen schon unterwegs sind. Oder indem die Polarisatoren so weit voneinander entfernt waren, dass nichtmal mit Lichtgeschwindigkeit Information von einem Polarisator zum anderen gelangen konnte. Immer gewann die Quantenmechanik. Die Photonen bekommen an der Quelle zwar ihre Korrelation mit, aber keine individuelle Polarisation.
Natürlich ist das nur der momentane Stand der Wissenschaft. Es sind andere Erweiterungen der Quantenmechanik denkbar, die diese Ergebnisse erklären. Aber der Weg zurück zur klassischen Physik ist mit den EPR-Experimenten verbaut. Eine klassische Theorie kann die Korrelation, wie sie gemessen wird, nicht erklären.
Anmerkung:
Dass hier ein Beitrag zum EPR-Paradoxon steht, ist Ergebnis einer Facebook-Umfrage auf der Quantenwelt-Fanpage. Dort dürft ihr mir auch in Zukunft gerne Anregungen fürweitere Blogposts machen. Auch auf Google-Plus und Twitter bin ich erreichbar.
————————————————————————————————
Quelle des Artikels: http://www.scilogs.de/wblogs/blog/quantenwelt/allgemein/2011-11-17/wellenfunktionen-und-epr-paradoxon