Winters Geburtstag

Winter hat Geburtstag.
Er kann diesem Tag, der ihn so brutal Jahr für Jahr auf die Veränderungen seines Körpers aufmerksam macht, der ihm Verfall und Alter unbedingt vor Augen führen muss, nichts abgewinnen.
Schon seit den frühen Morgenstunden steht Winter vor dem Spiegel und fährt mit dem Finger durch die Risse seine Haut, da sind Falten, schreit er auf, und auch gar nicht wenige; anschließend zählt er noch die Haare, die sich im Waschbecken angesammelt haben. Da er sich mehrmals verzählt, belässt er es irgendwann dabei (er vermutet eine Zahl um die 4 541 658) und geht nach einen kühnen Rechnung davon aus, in etwa drei Tagen alle Körperbehaarung als Gabe an die Kacheln des Badezimmers weitergegeben zu haben.
Tränenüberströmt überblickt er seine bereits jetzt der Verwesung anheim gefallene Situation.
Er legt sich ins Bett, probt dort, wie es sich wohl in einem Sarg liegen lassen wird, bis er zugeben muss: Bestimmt nicht derart weich und zu Träumen einladend.
Also probt er den zukünftigen Auftritt noch rasch neben dem Bett. Er legt sich auf den harten Boden.
Das ist schon besser, denkt er. So könnte es sich anfühlen.
Es klingelt an der Tür. Die ersten ungebetenen Geburtstagsgäste treffen ein: zwei Schriftsteller, seine Agentin, auch zwei seiner Leserinnen, die regelmäßig in seinem Internetblog um ihn buhlen.
Winter wischt sich ein Lächeln ins Gesicht, damit die Gästeschar nicht enttäuscht ist. Er bittet sie ins Arbeitszimmer und platziert sie um seinen Schreibtisch. Dort sitzen sie dann, während Winter eine Entschuldigung murmelt und an seinem Roman schreibt. Die Gäste sehen ihm dabei zu. Manche gebannt, andere erstaunt, die Agentin mit einem stoischen Gesichtsausdruck.
Winter chattet auch mit einigen Unbekannten. Er schreibt von seinem Geburtstag, seinen Nöten.
Die Gäste stimmen ein Lied an, das bereits nach den ersten Worten verkümmert.
Weil sich Winter so gar nicht um seine Gäste kümmern will, lenken die sich mit seinen Büchern ab; sie veranstalten ein Spiel und suchen die Buchstaben A und E aus den Werken. Da sie damit an diesem Abend nicht fertig werden, beschließen die Gäste über Nacht zu bleiben. Winter nimmt die Ankündigung mit einem Schulterzucken zur Kenntnis; er bietet gar sein Bett an, da er fortan auf dem harten Boden schlafen will, um so seiner letzten Ruhestätte schon zu Lebzeiten positive Seiten abgewinnen zu können.
Nach drei Wochen sind die Gäste noch immer mit dem Spiel beschäftigt. Die erste Aufregung ist verflogen. Man wünscht sich, nie auf dieser Geburtstagsfeier erschienen zu sein. Schließlich kommt die rettende Nachricht von der Agentin, die alle zu einem anderen Autor einlädt, der just heute, wie sie aufschreit, Geburtstag hat.
Lachend stürmen die Gäste hinaus. Winter bekommt es nicht einmal mit, weil er gerade 115 seiner 4569 „Freunden“, die er bei einem Internetnetzwerk aufgelesen hat, zum Geburtstag gratuliert.



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