Das Shakespeare-Jahr 2014 habe ich ohne Shakespeare-Lektüre verstreichen lassen, aber zumindest gab es einen Shakespeare-Kauf: Antiquarisch kaufte ich mir Erich Frieds dreibändige Shakespeare-Übersetzung.
Im Sommer 2015 spielt man in Perchtoldsdorf Shakespeares „Sturm“, und daher nahm ich mir diesen als ersten der von Fried übersetzten Stücke vor.
Und selten bin ich bei der Lektüre so ochs-vorm-scheunentor-artig dagestanden wie diesmal. Ich fragte mich dauernd: Was soll das Ganze?
Kuriose Zauberwelt auf einsamer Insel
Ein von seinem Bruder Antonio verdrängter ehemaliger Herzog von Mailand, Prospero, wurde auf eine einsame Insel verschlagen und lebt dort gemeinsam mit seiner Tochter Miranda als Zauberer mit zwei äußerst unterschiedlichen Wesen als „Gehilfen“: dem Luftgeist Ariel, dem er die Freiheit versprochen hat und der daher immer wieder danach fragt, wann sein Dienst endlich zu Ende sei; und dem „Erdgeist“ (könnte man sagen, wenn er ein Geist wäre) Caliban, einem „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“, arg verwachsen und entstellt, einem Ungeheuer, das nichts Gutes im Sinn hat und nur durch die Macht Prosperos halbwegs in Schranken gehalten wird. Weitere Zauberwesen stehen Prospero nach Bedarf zur Verfügung.
Im Unterschied zu Defoe interessiert Shakespeare nicht im mindesten, wie sich ein Mensch auf einer einsamen Insel das Überleben sichern kann. Prospero kann das einfach. Er hat ja Zauberkräfte. Wie ein Herzog von Mailand zu Zauberkräften kommt, erfährt man natürlich auch nicht. Es ist so. Das hat man hinzunehmen.
Schiffbruch auf Prosperos Geheiß
Prospero setzt diese Zauberkräfte ein, um seine Gegner, d. h. seinen Bruder, auszuschalten. Dieser ist nämlich, weshalb, erfährt man nicht, mit dem Schiff übers Meer unterwegs. Ihn begleiten Alonso, der König von Neapel (und Lehensherr von Mailand), und dessen Sohn Ferdinand sowie weitere Personen. Prospero befiehlt den Winden, einen ordentlichen Sturm zu veranstalten (aha, deshalb der Titel), sodass das Schiff zu Bruch geht und die Reisenden an verschiedenen Stellen ans Ufer gespült werden. Sie überleben samt und sonders, das hat Prospero so veranlasst. Er will sie nämlich nicht durch Mord ausschalten, sondern durch subtilere Mittel.
Die Schiffbrüchigen
Die Szenen zeigen nun abwechselnd, was an verschiedenen Stellen der Insel mit den dort jeweils hinverschlagenen Leuten geschieht. Caliban trifft auf Matrosen, die ein Weinfass gerettet haben und sich nun gemeinsam mit ihm besaufen. Im Rausch beschließen sie, Caliban bei der Ermordung seines verhassten Herrn Prospero zu unterstützen. (Klar, Prospero bekommt das mit und kann es verhindern. Am Schluss ist Caliban die Unterwürfigkeit in Person.)
Alonso und Antonio und ein kleines Gefolge fürchten das Schlimmste, glauben, alle anderen müssten ertrunken sein, und sind bald so verzagt, dass sie bereit wären, alles für eine Rettung zu geben. Insbesondere Antonio führt sich unrühmlich auf.
Alonsos junger Sohn Ferdinand wird separat in der Nähe von Prosperos Inselresidenz angespült, trifft dort auf Miranda und – Überraschung! – verliebt sich. Prospero sieht das ganz gern. Ja, hat es vorausgesehen.
Schließlich fügt es das „Schicksal“ so, dass alle Personen gegen Ende des Stücks bei Prospero zusammentreffen, zur Einsicht in ihre Untaten gekommen sind, Prospero als den rechtmäßigen Herzog anerkennen, Ferdinand heiraten darf, Ariel endlich entlassen wird und alles sich in Wohlgefallen auflöst.
Und da soll man sich als unbedarfter Leser nicht fragen: Was soll das? Da hat ja Ferdinand Raimund wesentlich tiefgehendere Zaubermärchen geschrieben.
Die Rettung: Kindlers Literaturlexikon
Zum Glück steht bei mir eine Ausgabe von Kindlers Literaturlexikon im Regal, sodass ich nachlesen konnte, was berufenere Geister dem Stück abgewinnen können. Und da steht nun nicht „schwächstes Stück Shakespeares“, „unglaubwürdige Handlung“, „politischer Nonsens“ oder „verrückte Robinsonade“, sondern das Gegenteil:
Es sei vermutlich das letzte Stück Shakespeares, angeregt durch die 1609 erfolgte Entdeckung der Bermudas durch Schiffbrüchige. Mit sparsamen Handlungselementen „bringt das Stück einen außerordentlichen gedanklichen Reichtum zur Anschauung, indem es die einzelnen Personen unter wechselnden Aspekten zueinander in antithetische Beziehung setzt und so eine vielschichtige, in sich bewegte Ideenstruktur sinnlich fassbar macht. Sein Grundthema, aus dem alle anderen Themen hervorgehen, ist der Gegensatz und die Wechselbeziehung von Natur und ‚Kunst‘. Beide Phänomene erweisen sich als mehrdeutig und mehrwertig.“ Während die Natur durch den „Wilden“ Caliban verkörpert wird, den es zu zähmen gelte, weil er zu freier Selbstbestimmung unfähig sei und daher „wesensmäßig ausersehen, beherrscht und benutzt zu werden“, bedeute Kunst dagegen „durch Erkenntnis und Triebkontrolle in einem kontinuierlichen Erziehungsprozeß erworbene ‚Bildung‘, die sich, wie in der Gestalt Prosperos verdeutlicht wird, in der freien Verfügung über die Kräfte der äußeren und der eigenen Natur vollendet.“ Und so weiter.
Man sieht: Ich habe das Stück nicht verstanden. Eigentlich sollte ich es jetzt noch einmal lesen. Vielleicht aber doch vorher noch einen ausführlicheren Kommentar. Oder jene Bücher über Shakespeare, die schon des Längeren in meiner Bibliothek auf Lektüre warten. Oder ich sollte vorher die „Sturm“-Aufführung in Perchtoldsdorf ansehen, oder doch lieber nachher, wenn ich erkenntnisgesättigt beurteilen kann, ob sie gut ist. Aber wenn ich das alles gelesen habe, wird das Sommertheater in Perchtoldsdorf längst dem Winter gewichen sein. Also lass ich es lieber ganz und lese etwas anderes…
William Shakespeare: „Der Sturm“ [Komödie in fünf Akten.] In: Shakespeare. 27 Stücke von William Shakespeare in der Übersetzung von Erich Fried. Wagenbach, Berlin, 1989. Band 3. Seite 571 – 620.
Kindlers Literatur Lexikon im dtv. München, 1986. Band 11, Seite 9278f.
Bild: Wolfgang Krisai: Die Bühne für Shakespeares “Sturm”, Sommertheater Perchtoldsdorf bei Wien. 16. 6. 2015. Füllfeder. – Die Skizze entstand bei einer Urban-Sketching-Tour im Kunstunterricht.