Was haben wir bis jetzt durch WikiLeaks erfahren? Nicolas Sarkozy, der französische Präsident, ist ein vulgärer Mensch mit autoritären Neigungen. Ach wirklich? Silvio Berlusconi, der italienische Ministerpräsident, ist an Sex interessiert. Für wen ist das etwas Neues? Hätten die US-Geheimpapiere etwas anderes behauptet, dann wären wir überrascht. Ansonsten? In Saudi Arabien mag man Desperate Housewives und David Letterman. Die Araber sind wirklich gegen den Iran. Angereichertes Uran stand einen Monat lang in Libyen auf einem Rollfeld „Libya almost nuked itself in hissyfit over a tent“. Sylt gehört zur langen Liste strategisch wichtiger deutscher Orte für die amerikanische Wirtschaft. Die USA spionieren die UN aus, führen im Jemen einen verdeckten Krieg und hatten einen Maulwurf in der FDP. Danke Herr Assange! Ja, in den USA ist etwas mit den „checks and balances“ im Argen. Nur nähme ich die Prämissen der Nürnberger Kriegverbrecherprozesse als Grundlage, so hätten die meisten der US-amerikanischen Präsidenten nach 1945 hingerichtet werden müssen. Wo liegt also der Hase im Pfeffer?
Manch einer findet in der Person von Herrn Assange den Genius weltgeschichtlicher Persönlichkeiten wieder. Mir geht es leider nicht so. Nachdem der leichte Schauer der Freude über die Niederlage der Mächtigen und der Obrigkeit verflogen ist, stellt sich eine Freude ähnlich derjenigen ein, einen übertrieben würdevollen Mann auf einer Bananenschale ausrutschen zu sehen. Die wirkliche Bedeutung der größten Offenlegung von amtlichen Dokumenten in der Weltgeschichte wird deutlich. Natürlich ist die Enthüllung von Geheimnissen nicht immer unwillkommen oder ethisch nicht gerechtfertigt. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Macht missbraucht werden und nur durch eine Gegenmacht in Schach gehalten werden kann. Wobei diese Gegenmacht in der Tat die öffentliche Zurschaustellung von Verbogenem oder Heimlichem ist. Aber WikiLeaks geht weit über die Notwendigkeit, Fehlverhalten oder vermeintlichen Fehlverhalten aufzudecken, hinaus. Es spielt, wohl eher unwissentlich, auf den Instrumenten des Totalitarismus.
Die Idee hinter WikiLeaks ist, dass das Leben ein offenes Buch sein soll. Dass alles, was gesagt und getan wird, sofort allen offenbar wird. Dass geheime Absprachen, Taten oder Gespräche grundsätzlich falsch sind. Niemand und keine Organisation sollte etwas zu verbergen haben. Die Bestrafung von Geheimnisverrat ist illegitim und verwerflich. Ich finde diese Weltsicht zutiefst kindisch.
Geheimhaltung, oder vielmehr die Möglichkeit der Geheimhaltung, ist nicht der Feind, sondern die Voraussetzung für Offenheit. WikiLeaks wird Misstrauen und Angst, ja Paranoia, säen. Entscheidungsträger werden immer weniger bereit sein, sich offen zu äußern, wenn das was sie sagen, von ihrem Gesprächspartner aufgezeichnet wird und später als Beweismittel gegen sie verwendet werden kann. Und dies nicht unbedingt von dem Gesprächspartner selbst. Dies kann in der offiziellen Welt geschehen. Ein Überschwappen in den privaten Bereich ist nicht auszuschließen. Die tatsächlichen Auswirkungen von WikiLeaks wären dann genau das Gegenteil dessen, was es angeblich erreichen will.
Die Auflösung der Unterscheidung zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich war einer der großen Ziele des Totalitarismus. Das Öffnen und Lesen anderer Leute E-Mails unterscheidet sich nicht grundsätzlich von Öffnen und Lesen anderer Leute Briefe. Faktisch hat WikiLeaks die Rolle des Zensors der Welt an sich gerissen. Eine Rolle, die eine erstaunliche moralische Arroganz und Größenwahn erfordert. Auch wenn einige Übel von ihm aufgedeckt oder einige notwendige Wahrheiten gelüftet werden. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.
Und zum Schluss noch eine Sache, die mich persönlich stört und auf die der Spiegelfechter hinweist. Der Strategiewechsel von WikiLeaks, sich vor allem auf PR-wirksame “Mega-Leaks” aus dem Material des Whistleblowers Bradley Manning zu konzentrieren und weniger spektakuläre Lecks aus Entwicklungs- und Schwellenländern zu vernachlässigen. Dies taten Herr Assange und seine Mitstreiter offenbar aus rein finanziellen Erwägungen. Denn USA-Bashing zieht Kapital an. Ausgewogenes Informieren ist also nicht mehr das Ziel von WikiLeaks. Dies sollte es aber zumindest sein, wenn man schon der naiven Meinung ist, dass alle Information frei zugänglich sein soll.