Wieso der #aufschrei so wichtig ist. Oder: JA, HALLO, BIN ICH MUTTI?!

Ja, ich muss jetzt auch mal meinen Senf dazugeben (at last...). Die letzten Tage sind mir so viele Erinnerungen hochgekommen, so viele Sachen eingefallen und ich habe so viele Dinge gelesen, die mich wirklich wütend gemacht haben. Ein absoluter subjektiver Text.
Der Anlass für den #aufschrei auf Twitter (nicht der Grund, was oft und gerne noch verwechselt wird), ist dass Herr Brüderle, seines Zeichens Spitzenkandidat der FDP (eine Partei, die sowohl meine Eltern als auch ich langjährig gewählt haben), vor etwa einem Jahr einer Journalistin gegenüber unprofessionell aufgetreten ist. Bezeichnenderweise wird von Seiten der FDP nicht behauptet, dass die geschilderten Vorfälle nicht stattgefunden haben, sondern dass die Berichterstattung "unfair" sei. Man kann über den Zeitpunkt der Veröffentlichung sicherlich streiten, aber es ändert ja nichts an der Tatsache, dass Herr Brüderle sich sehr schlecht benommen hat. Er hat die gesteckten Grenzen nicht akzeptiert...seine Mama hätte ihm dafür hoffentlich die Hosenbeine langgezogen.
Unter dem Hashtag #aufschrei berichten und diskutieren seit einigen Tagen tausende User über Sexismus und alltägliche Grenzüberschreitungen. Grenzüberschreitungen, die mich seit meiner Kindheit begleiten. Immer wieder wurde mir, seitdem ich ein kleines Mädchen war, klargemacht, wo ich in der Rangordnung stehe. Dass ich mich ganz hinten anzustellen habe. Und bitte auch die Klappe zu halten habe. Und dabei noch nett lächeln und "Dankeschön!" sagen soll.
Da wären etwa der Schulkamerad in der ersten Klasse, der seine schlechte Laune konsequent mit körperlicher Gewalt ausschliesslich an Mädchen ausliess. Oder die physische und psychische Prügel, die ich durch meine Schulzeit hindurch einsteckte, weil ich eben nicht auf den Mund gefallen bin und mich nicht unterkriegen lasse. Der fummelnde Opa in der S-Bahn, als ich 12 war. Die betatschenden Typen auf einer Studentenparty in Leipzig, die mich als Schlampe beschimpften, als ich ihnen mitteilte, dass sie ihre Pfoten doch bitte bei sich lassen sollten und die durch die Security entfernt wurden. Auf- und zudringliche Kollegen und Mandanten. Bis hin zu Sätzen, die ich mir heute anhören muss: "Ja, aber mit zwei so kleinen Kindern, da ist ja schon ein 60%-Pensum eigentlich zuviel." Oder das joviale "Ja, Mädels, ihr wisst doch, keine Buchung ohne Beleg..." zu meiner Geschäftspartnerin auf ihre Frage, ob die Quittung gebraucht wird. Danke, wir sind beide Mitte 30 und führen erfolgreich unser Geschäft, wir brauchen keine Nachhilfe im Tonfall von "Komm, Kleine, ich erklär Dir die Welt.".
Ein Grundrauschen, das mein Leben als Frau begleitet. Und ich stelle fest: ich bin nicht alleine. Und zum ersten Mal werden hier die alltäglichen, kleinen Gemeinheiten benannt, deren Zweck es immer wieder ist, klarzumachen, wer hier am längeren Hebel sitzt.
Und dann lese ich einen Blogeintrag wie von Meike. Das Schreien der Lämmer. Meike kritisiert darin, dass alles in einen Topf geschmissen wird. Sexismus, Kindesmissbrauch, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung. Ja, es ist klar, dass das nicht das Gleiche ist. Ich bin aber der absoluten Überzeugung, dass das Grundrauschen der vielen kleinen Grenzüberschreitungen, Grundlage und Nährboden ist für körperliche Übergriffe. Wenn ich es als toller Hecht gewohnt bin, dass ich dieses und jenes sagen kann und darf, dann sinkt die Hemmschwelle, auch mal zu tatschen.
Weiterhin würden die unterschiedlichen Wahrnehmungen ignoriert werden. Dazu kann ich nur sagen: es gibt Grenzen. Die gibt einem die gute Erziehung bzw. der gesunde Menschenverstand und der Respekt vor dem Gegenüber vor. Wirkungsvolle Kontrollfrage an alle verunsicherten Männer: Fände ich es okay oder begrüssenswert, wenn das, was ich jetzt gerade sage oder tue, von einem Mann meiner Mutter/Tochter/Schwester gesagt oder getan wird?
Aus ihrer Perspektive weigern sich ja die Frauen auch, Verantwortung zu übernehmen. Nur von den Männern eine Änderung ihres Verhaltens zu erwarten, sei "doof". Was ich jetzt mal richtig "doof" finde und nicht nur doof, sondern anmassend und herablassend, ist ihr Einschub, sie fände 60% der geschilderten Vorkommnisse "erschreckend" und 40% als "kleinliches Pille-Palle". Ganz ehrlich? Wer bin ich denn, dass ich mir anmassen kann, zu beurteilen, was relevant ist und was nicht? Es geht eben auch um kleinliches Pille-Palle, weil eben dieses Pille-Palle die Grundeinstellung der Frau gegenüber offenlegt. Die Einstellung, dass sich eine Frau hinten anzustellen hat, muss sich nicht in der brutalen Vergewaltigung äussern. Dazu reichen auch schon die oben von mir beschriebenen Sätze. Mir geht es dabei in erster Linie um die alltäglichen Grenzüberschreitungen. Um die Schublade, in die ich als Frau gesteckt werde. Ich meine, dass das das Klima ist, das körperlichen Übergriffen den Boden bereitet.
Nein, es ist nicht alles "schlimm", was mir passiert ist oder mir gesagt wurde. Aber hätte jede dieser Situationen einem Mann passieren können? Die jovialen Sprüche zum Beispiel?
Weniger hinnehmen und klarer sprechen, für sich selber einstehen. Das soll ich. Raus aus der Opfer-Haltung. Mach ich. Ich bin die grossflächig tätowierte Wasserstoffperoxid-Blondine mit den kurzen Haaren und der schlagfertigen Berliner Schnauze. Ich nehme wenig hin, kann für mich selber einstehen und finde klare Worte. Und ich habe das Glück, dass ich in meinem erwachsenen Leben nie in einer Situation war, die ich nicht im Griff hatte. ABER: ich habe dazu eigentlich keinen Bock.
Mal als Beispiel: Bei einem Arbeitgeber hat mich ein Klient, der mein Grossvater hätte sein können und auch ständig mit meinen Brüsten gesprochen hat, vor meinem Chef zum Essen eingeladen. Ich habe gesagt "Danke für die Einladung, Herr XY, aber ich möchte nicht mit Ihnen Essen gehen. Ausserdem habe ich schon einen Mann." Er darauf: "Man sollte aber auch mal einen Mercedes probefahren. Statt einem VW Käfer." - "Herr XY, tut mir sehr leid, aber ich stehe auch bei Autos nicht auf Oldtimer.". Klar, ich hatte die Lacher auf meiner Seite. Aber war das denn nötig? Kann ich denn nicht erwarten, dass meine höfliche Ablehnung einfach akzeptiert wird?
Und ich sehe es ganz bestimmt nicht als meine Aufgabe, die Produkte einer fehlgeleiteten Erziehung an der Hand zu nehmen, ihnen über den Kopf zu streicheln und zu zeigen, wie es richtig geht, wenn es von ihrer Seite nicht mehr als ein kurzes Nachdenken und ein evtl. Zurücknehmen braucht. Ich soll also als Frau mit den Männern reden und ihnen klarmachen, dass das so nicht geht. JA, HALLO, BIN ICH MUTTI?! Meine Erziehungsaufgabe leben ich mit viel Hingabe bei meinem Sohn aus, dass muss ich nicht noch bei Männern machen, die schon lange aus dem Pampers-Alter raus sind.
Ich bin nicht eure Mutti, die euch beibringe muss, wie man sich benimmt.

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