Wie schätzt man die Lebenserwartung?

Im Beitrag vom 27. Juni haben wir uns mit dem Unterschied in der Lebenserwartung von Männern und Frauen beschäftigt. Wie in den meisten Statistiken habe ich dabei die Lebenserwartung bei Geburt verwendet. Die Lebenserwartung bei Geburt für ein 1954 geborenes Kind ist nicht zu verwechseln mit dem erwarteten Sterbealter eines heute 40 Jahre alten Menschen. Denn wer jetzt 65 ist, ist schon mal nicht vor 65 gestorben.

Tatsächlich hat eine heute 65 Jahre alte Frau nach der aktuellen Prognose des Statistischen Bundesamtes im Schnitt noch 21,0 Jahre zu leben. Sie kann als0 damit rechnen 86 Jahre alt zu werden, ein Mann immerhin 82 Jahre und neun Monate. Wer auf Basis der Lebenserwartung bei Geburt im Jahr 1945 (nach einer anderen Quelle 75 Jahre) einer heute 74 Jahre alten Frau prophezeit, dass sie nächstes Jahr sterben wird, hat die Statistik nicht verstanden. Tatsächlich tat die BILD Zeitung einst aber genau dies.

Je älter jemand ist, desto höher ist also das erwartete Sterbealter (weil er nicht mehr jung sterben kann), desto niedriger aber die noch vor ihm liegende Zahl an Jahren (weil er ja viele Jahre schon hinter sich hat). Es gibt eine einzige Ausnahme in der Sterbetafel, das sind die Neugeborenen. Die durchschnittlich noch zu erwartende Zahl an weiteren Lebensjahren liegt für ein neugeborenes Kind niedriger als für ein einjähriges. Warum? Weil trotz der im Vergleich zu früheren Zeiten unglaublich niedrigen Säuglingssterblichkeit (selbst in fast allen Entwicklungsländern ist sie niedriger als noch vor 50 Jahren in Deutschland) das erste Lebensjahr noch immer besonders gefährlich ist. Anders ausgedrückt: Alle Kinder, die das erste Lebensjahr überleben werden, haben am Tag der Geburt natürlich noch ein Jahr mehr vor sich als an ihrem ersten Geburtstag. Aber die Kinder, die im ersten Jahr sterben werden, drücken den Schnitt.

In früheren Jahren war dieses Phänomen übrigens noch deutlich ausgeprägter. In alten Kirchenbüchern findet man bei den Beerdigungen vor allem die Namen von Kindern. Bis zum Alter von etwa fünf stieg die Zahl der Jahre, die ein Kind noch vor sich hatte, mit jedem Jahr an.

Wie funktioniert die Prognose?

Woher wissen die Wiesbadener Statistiker, dass ein in den Jahren 2015 bis 2017 geborener Junge 78,4 Jahre alt werden wird? Oder dass die Frauen, die in einem dieser drei Jahre 65 wurden zum Zeitpunkt ihres Geburtstages noch 21 Jahre zu leben haben?

Um es kurz zu machen, sie wissen es gar nicht. Sie schätzen das Alter auf Basis aktueller Sterbewahrscheinlichkeiten. Basis der oben genannten Prognose ist die Periodensterbetafel. Sie zeigt an, wie viele Menschen eines bestimmten Alters aktuell sterben. Daraus lässt sich dann eine Schätzung ableiten. Vereinfacht gesagt: Wenn aktuell die Wahrscheinlichkeit vor dem ersten Geburtstag zu sterben für einen Jungen bei 0,356 Prozent und für ein Mädchen bei 0,308 Prozent liegt, wird dieser Wert auch herangezogen um die Wahrscheinlichkeit für ein heute neugeborenes Kind zu berechnen, dass es mit neun Jahren sterben wird. Zwischen ein und zwei Jahren starben im Betrachtungszeitraum 0,028 Prozent der Buben und 0,023 Prozent der Mädchen.

Daraus ergibt sich natürlich auch eine Überlebenswahrscheinlichkeit. 99,644 Prozent der Jungs überleben also das erste Lebensjahr, von den Überlebenden wiederum 99,971 das zweite. Daraus ergibt sich, dass 99,615 Prozent mindestens zwei Jahre werden (0,99644 * 0,99971 = 0,99615 = 99,615 Prozent). Das Spiel lässt sich so weiter treiben bis 100. Verändert sich die Sterbewahrscheinlichkeit nicht, dann wird ein 2015, 2016 der 2017 geborener Junge mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,406 mindestens 100 Jahre alt, ein Mädchen mit 1,257 Prozent.

Auf den ersten Blick mag es überraschen, dass die Lebenserwartung von Männern zwar „nur" um 6,7 Prozent niedriger liegt, die Wahrscheinlichkeit für ein Mädchen 100 zu werden aber mehr als dreimal größer ist. Allerdings fallen auch kleine Unterschiede zwischen den Gruppen bei den Extremwerten sehr stark ins Gewicht.

Die Effektstärke auf Basis von Cohens d liegt übrigens bei 0,36 für den Geschlechterunterschied. Das bedeutet, der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen einzelnen Männern und zwischen einzelnen Frauen gemessen in der Standardabweichung ist deutlich größer als der Unterschied zwischen den Geschlechtern (fast dreimal so groß), allerdings werden Werte über 0,30 üblicherweise nicht mehr als geringer, sondern als mittlerer Effekt angesehen. Damit ist der Geschlechterunterschied bei der Lebenserwartung auch deutlich größer als viele andere Geschlechterunterschiede.

Entwicklung der Sterbewahrscheinlichkeit

Anhand dieser Daten lässt sich natürlich leicht eine Lebenserwartung berechnen. Wir berechnen einfach, wie viele Menschen des aktuellen Geburtsjahrgangs bei der gegebenen Sterbewahrscheinlichkeit in jedem Jahr sterben würden. Vor dem ersten Geburtstag würden demnach von 100.000 Mädchen 308 sterben. Das Sterbealter wird aufgerundet, man rechnet also mit einem Jahr. 308 Mädchen sind also ein Jahr alt geworden. Die gleiche Rechnung wird jetzt für jedes Altersjahr gemacht. 506 Mädchen würden beispielsweise bei konstanten Sterbewahrscheinlichkeiten mit 60 sterben.

Die Sterbewahrscheinlichkeit sinkt dann bis zum Alter von neun Jahren ständig und steigt dann wieder an. Es gibt immer wieder kleinere Veränderungen, die aber auch zufällig bedingt sein können. Auffällig ist, dass es bereits in jungen Jahren einen kleinen Geschlechterunterschied gibt, was dafür spricht, dass es tatsächlich auch biologische Faktoren gibt. Allerdings wird er wirklich groß vor allem von 19 bis 29, die Gefahr mit 22 zu sterben ist für einen jungen Mann um fast 170 Prozent höher. Das spricht für die hohe Bedeutung sozialer Faktoren, auch wenn man das bei den Grünen nicht wahrhaben will.

Das Problem dabei

Allerdings hat das Verfahren Schwächen, weil sich die Sterbewahrscheinlichkeiten ändern können. Im günstigsten Fall sinken sie, im ungünstigen können sie aber auch steigen. Rechnet man nach demselben Verfahren die Lebenserwartung für einen 1945 geborenen Jungen, würde sie relativ niedrig liegen. Denn anhand der Daten des Jahres 1944 würde man unterstellen, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit im Alter zwischen 18 und 25 sterben würde, denn genau das taten damals sehr viele Männer (und deutlich weniger, aber ebenfalls viele Frauen). Bis das 1945 geborene Kind aber 18 war, war der Zweite Weltkrieg längst vorbei. Wir schrieben das Jahr 1962, das Jahr der Kubakrise, die aber glücklicherweise keinen Atomkrieg zur Folge hatte (was die Lebenserwartung deutlich negativ beeinflusst hätte).

Rückgänge bei der Lebenserwartung bei Geburt (zum Beispiel bei einem Krieg oder einer Seuche) bedeuten also nicht, dass die damals geborenen Kinder wirklich weniger lang lebten als ihre großen Geschwister, denn diese waren von der Entwicklung genauso betroffen. Wer wissen will, ob ein 1920 geborenes Kind eher starb, als ein 1910 geborenes muss die Kohortensterblichkeit betrachten, also die Lebenserwartung einer bestimmten Altersgruppe, beispielsweise des Jahrgangs 1920. Die Schwankungen sind da entsprechend geringer als bei der Periodensterblichkeit, weil (korrekterweise) bedacht wird, dass beispielsweise die Spanische Grippe zwischen 1918 und 1920 auch vorherige Geburtsjahrgänge traf und außerdem nicht ewig andauert.


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