Man hatte uns restlos für einen Angriffskrieg vorbereitet – und es war nicht unsere Schuld, daß die Aggression nicht von uns ausgegangen war. Generalmajor R G. Grigorenko (Erinnerungen – Im Keller trifft man nur Ratten, S. 138)
Am 17. Juni 1945 führte eine Gruppe sowjetisch-militärischer Untersuchungsrichter eine Vernehmung der höchsten militärischen Führer des faschistischen Deutschland durch.
Generalfeldmarschall W. Keitel, (Foto links): »Ich betone, daß alle von uns bis zum Frühjahr 1941 durchgeführten vorbereitenden Maßnahmen den Charakter reiner Verteidigungsvorkehrungen für den Fall eines Angriffs durch die Rote Armee trugen. Insofern kann man den ganzen Krieg im Osten gewissermaßen einen Präventivkrieg nennen … Wir beschlossen …, einem Angriff Sowjetrußlands zuvor zukommen und durch einen Überraschungsangriff dessen Streitkräfte zu zerschlagen. Gegen Frühjahr 1941 kam ich zu der festen Überzeugung, daß uns die starke Konzentrierung der russischen Truppen und deren nachfolgender Angriff auf Deutschland in strategischer und wirtschaftlicher Hinsicht in eine außerordentlich kritische Lage bringen könnten … In den ersten Wochen hätte ein Angriff von Seiten Rußlands, Deutschland in eine extrem ungünstige Situation versetzt. Unser Angriff war eine unmittelbare Folge dieser Bedrohung …«
Generaloberst A. Jodl, (Foto rechts) der Chefkonstrukteur der deutschen Kriegspläne, behauptete dasselbe. Die sowjetischen Untersuchungsrichter waren energisch bemüht, Keitel und Jodl den Boden dieses Arguments zu entziehen. Doch das gelang nicht. Keitel und Jodl änderten ihren Standpunkt nicht und wurden aufgrund des Urteils des sogenannten »Internationalen Gerichtshofs« in Nürnberg zusammen mit den anderen »Hauptkriegsverbrechern« gehängt. Eine der Hauptanklagen gegen sie lautete auf »Entfesselung eines nicht provozierten Angriffskrieges« gegen die Sowjetunion.
Seitdem sind viele Jahre vergangen und neue Zeugenaussagen sind aufgetaucht. Mein Zeuge ist Flottenadmiral der Sowjetunion N. G. Kusnezow (1941 Admiral, Volkskommissar für die Kriegsmarine der UdSSR, Mitglied des Zentralkomitees, Mitglied des Hauptquartiers des Oberkommandos seit dessen Gründung).
Und dies sind seine Aussagen: »Für mich steht unstrittig das eine fest: Stalin hatte nicht nur die Möglichkeit eines Krieges mit Hitler-Deutschland nicht ausgeschlossen, er hielt einen solchen Krieg im Gegenteil sogar … für unvermeidlich … Stalin hat diesen Krieg vorbereitet — seine Vorbereitung war umfassend und vielseitig. Er ging dabei von den von ihm selbst vorgegebenen … Fristen aus. Hitler zerstörte seine Berechnungen.« (Am Vorabend, S. 321)
Der Admiral sagt uns vollkommen offen und klar, daß Stalin einen Krieg für unvermeidlich hielt und sich zielstrebig darauf vorbereitete. In diesen Krieg wollte Stalin jedoch nicht in Reaktion auf einen von Deutschland ausgehenden Angriff eintreten, sondern zu einem Zeitpunkt, den er selbst wählen würde. Anders ausgedrückt: Stalin bereitete sich darauf vor, als erster zu-zuschlagen, das heißt, einen Angriff gegen Deutschland zu führen, aber Hitler entschloß sich zu einem Präventivschlag und zerstörte damit alle Pläne Stalins. (Aufschluss hierüber gibt auch das Gespräch Hitlers mit General Mannerheim in Finnland, das erst 2004 öffentlich wurde und entgegen der Behauptung des Mainstreams, echt ist.)
Admiral Kusnezow ist ein hochkarätiger Zeuge. 1941 nahm er in der sowjetisch-militärischen und politischen Hierarchie sogar eine noch höhere Position als Schukow ein. Kusnezow war Volkskommissar, Schukow dagegen nur Stellvertreter eines Volkskommissars; Kusnezow war Mitglied des Zentralkomitees, Schukow dagegen nur ZK-Kandidat. Keiner unserer Memoirenschreiber nahm 1941 eine gleich hohe Stellung ein wie Kusnezow und keiner ist Stalin so vertraut gewesen wie er. Deshalb halte ich Kusnezow für meinen wichtigsten Zeugen, nach Stalin natürlich. Im übrigen stimmt das, was Kusnezow nach dem Krieg sagte, völlig mit dem überein, was er schon vor dem Kriege äußerte, wie beispielsweise 1939 auf dem 18. Parteikongreß. Das war der Parteikongreß gewesen, der einen neuen Weg gewiesen hatte: Schluß mit dem Terror im eigenen Land und Verlagerung des Terrors in die Nachbarländer. »Das, was in der UdSSR geschaffen worden ist, kann auch in anderen Ländern geschaffen werden!« Auf diesem Parteitag der »Sieger«, die beschlossen haben, nun »Befreier« zu werden, ist Kusnezows Rede vielleicht die aggressivste. Gerade dank dieser Rede wird Kusnezow am Ende des Parteikongresses Mitglied des Zentralkomitees, -und zwar unter Umgehung des Status eines Kandidaten für dieses Amt- und er erhält den Posten eines Volkskommissars. Alles, was Kusnezow offen ausspricht, hat Stalin viele Jahre vor ihm in seinen geheimen Reden gesagt. Alles, was Kusnezow sagt, wird durch die Handlungsweise der Roten Armee und Flotte bestätigt. Und schließlich muss man Admiral Kusnezow im vorliegenden Fall auch deshalb glauben, weil sein Buch alle Freunde und Feinde gelesen haben, weil es die politischen und militärischen Führer der Sowjetunion gelesen haben, weil es die Marschälle, Diplomaten, Historiker, Generale und Admirale gelesen haben, weil es die voreingenommenen “Freunde” der UdSSR im Ausland gelesen haben und keiner jemals den Versuch unternommen hat, Kusnezows Worte in Abrede zu stellen!
Vergleichen wir seine Worte mit denen von Keitel. Generalfeldmarschall W. Keitel sagt: “Deutschland habe keinen Angriff gegen die Sowjetunion vorbereitet, die Angriffsvorbereitungen habe die Sowjetunion getroffen. Deutschland hat sich nur gegen eine unausweichliche Aggression verteidigt, als es seinen Präventivschlag führte.”
Flottenadmiral der Sowjetunion N. G. Kusnezow sagt dasselbe: “Ja, die Sowjetunion hat sich auf den Krieg vorbereitet und hätte ihn unweigerlich begonnen, aber Hitler hat durch seinen Angriff diese Pläne vereitelt.”
Ich begreife nur nicht, warum man Keitel aufgehängt hat, aber Kusnezow nicht. Ich begreife nicht, warum man Hitler für einen Aggressor hält, Stalin dagegen für ein Opfer. Ich verstehe, daß die Richter des »Internationalen Gerichtshofs« in Nürnberg nicht das Bedürfnis verspürten -und nicht so viel professionelle Ehrlichkeit aufbrachten-, die wahren Urheber des Krieges ausfindig zu machen. Aber ich begreife nicht, warum die selben »Richter« nach den Bekenntnissen von Admiral Kusnezow sich nicht umgehend in Nürnberg einfanden und einen Teil der Anklage gegen Keitel, Jodl, die deutsche Wehrmacht und Deutschland insgesamt zurücknahmen.
Die sowjetischen Marschälle und Generale verhehlen ihre damaligen Absichten nicht. Der Leiter der Akademie des Generalstabs der Streitkräfte der UdSSR, Armeegeneral S. P Iwanow, hat zusammen mit einer Gruppe führender sowjetischer Historiker bereits 1974 im Militärverlag in Moskau, eine wissenschaftliche Untersuchung über »Die Anfangsphase des Krieges« herausgebracht. In diesem Buch gibt Iwanow nicht nur zu, daß Hitler einen Präventivschlag geführt hat, sondern er nennt auch eine Zeit: »Der deutschen faschistischen Führung war es buchstäblich in den letzten beiden Wochen vor dem Krieg gelungen, unseren Truppen zuvorzukommen.«
Wenn sich die Sowjetunion auf eine Verteidigung vorbereitet hätte oder allenfalls zu einem Gegenangriff, dann konnten die Deutschen ihr nicht zuvor kommen. Bereitete die Sowjetunion jedoch einen Angriff vor, so konnte man ihr mit einem Vorstoß zuvorkommen, den die andere Seite nur ein klein wenig eher unternahm.
1941 war der deutsche Vorstoß, wie Iwanow sagt, zwei Wochen eher erfolgt. Derlei Eingeständnisse gibt es nicht wenige. Hier ein weiteres Beispiel. Es ist der »Militärhistorischen Zeitschrift« von 1984 entnommen. Die Zeitschrift ist offizielles Organ des Verteidigungsministeriums der UdSSR und kann nicht ohne Sichtvermerk des Verteidigungsministers und des Chefs des Generalstabs (zu der Zeit, die Marschälle der Sowjetunion S. Sokolowund S. Achromejew) erscheinen.
Die »Militärhistorische Zeitschrift« erklärt, warum in Grenznähe die erwähnten Riesenvorräte an Munition, Treibstoff und Lebensmittel angelegt waren. Die Antwort ist einfach – für Angriffsoperationen. (M.H.Z. Nr. 4, S. 34)
Auf derselben Seite wird offen davon gesprochen, daß der deutsche Angriff die sowjetischen Pläne vereitelte. Hätte sich dagegen die Rote Armee auf eine Verteidigung eingestellt oder selbst einen Gegenangriff, dann wäre es nicht so einfach gewesen, ihre Pläne zu vereiteln, vielmehr hätte eine deutsche Invasion für die sowjetischen Truppen nur als auslösendes Signal zu einem planmäßigen Vorgehen gedient. Nur wenn sich die Rote Armee auf einen Angriff vorbereitete, konnte die deutsche Invasion diese Pläne vereiteln, weil die Truppen, statt plangemäß zu handeln, gezwungen waren, sich zu verteidigen, das heißt, zu improvisieren, nämlich etwas zu tun, was nicht vorgesehen war.
Kehren wir jetzt zum Juni 1941 zurück.
Am 6. Juni war die deutsche Aufklärung in den Besitz von Informationen gelangt, daß die Sowjetregierung nach Swerdlowsk zu übersiedeln beabsichtige. In Deutschland haben nur Hitler und seine nächste Umgebung davon Kenntnis. Dr. Goebbels macht in seinem Tagebuch einen entsprechenden Vermerk, daß er eine solche Information erhalten habe. (Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil l, Bd. 4, S. 675)
Und erst viele Jahrzehnte später können wir die Nachricht von der Verlegung der sowjetischen Regierung richtig würdigen. Denn heute wissen wir, daß in Swerdlowsk eine Scheinkommandozentrale eingerichtet worden war. Erst im Laufe des Krieges wurde deutlich, daß als Ersatzhauptstadt nicht Swerdlowsk vorgesehen war, sondern Kuibyschew, in das, als die Lage kritisch wurde, viele Regierungsinstitutionen der Sowjetunion und die ausländischen Botschaften verlegt wurden. Aber auch Kuibyschew ist noch nicht die ganze, sondern nur die halbe Wahrheit. In Kuibyschew waren diejenigen Einrichtungen konzentriert, deren Verlust ohne Einfluß auf die Stabilität der obersten militärischen und politischen Führung des Landes bleiben würde: Der Oberste Sowjet mit dem »Präsidenten« Kalinin, die weniger wichtigen Volkskommissariate, die Botschaften. Alle wichtigen Institutionen befanden sich in unmittelbarer Nachbarschaft, doch nicht in Kuibyschew, sondern in dem riesigen unterirdischen Tunnelsystem, das man in das Gestein der Schiguli-Höhen gehauen hatte. (Die Schiguli-Höhen sind ein Gebirgszug an der Wolga zwischen Nowgorod und Wolgograd, etwa 75 km lang und das einzige Gebirge entlang der Wolga.)
Vor dem Krieg war der Bau dieser gigantischen Anlage durch den Bau eines anderen Giganten getarnt worden — das Wasserkraftwerk von Kuibyschew. Tausende von Strafgefangenen hatte man dorthin geschickt, Tausende Tonnen an Baumaterialien und Baugerät, und jedermann war klar gewesen, wozu das geschah – für den Bau des Wasserkraftwerks. Nach dem Krieg wurde das ganze gewaltige Bauwerk weiter Wolga-aufwärts verlegt und das Wasserkraftwerk an einem neuen Ort errichtet. Für die erste Anlage hatte man eine Baustelle gewählt, an der zwar kein Wasserkraftwerk errichtet werden konnte, wohl aber eine großartige unterirdische oder genauer gesagt, unter Felsen angelegte Kommandozentrale.
In den deutschen Vorkriegsarchiven finden sich keinerlei Hinweise auf Kuibyschew als Ersatzhauptstadt und noch viel weniger irgendeine Erwähnung der Kommandozentrale unter den Schiguli-Höhen. Die deutsche Abwehr besaß nur Informationen über eine Verlegung der sowjetischen Regierung in eine Kommandozentrale in Swerdlowsk. Doch die Regierung kann nicht in eine Kommandozentrale verlegt werden, die überhaupt nicht existiert. Wer aber verbreitet dann Informationen von einer Übersiedlung in eine Scheinkommandozentrale? Das kann nur jemand tun, der diese Scheinkommandozentrale erfunden hat, das heißt: die Sowjetregierung, oder genauer gesagt, der Chef dieser Regierung – Stalin.
Die Scheinkommandozentrale wurde ja geradezu geschaffen, damit der Gegner eines Tages davon erfährt. Und nun war dieser Zeitpunkt gekommen und die deutsche Abwehr erhielt die »Geheiminformation«, die speziell für sie fabriziert worden war. Die Nachricht an die deutsche Abwehr von der Absicht der Sowjetregierung, nach Swerdlowsk zu übersiedeln, ist ein »Geheimnis« aus derselben Serie wie Stalins Rede vor den Absolventen der Militärakademie, wie das Geschwätz der sowjetischen Botschafter und wie das TASS-Kommunique.
Wenn die deutsche Aufklärung eine falsche Nachricht über die Absichten der Sowjetregierung zugespielt erhält, dann besagt dies, daß die sowjetische Führung in eben diesem Augenblick etwas zu verbergen bemüht ist. Es fällt nicht schwer zu erraten, worum es dabei geht. Wenn die sowjetische Führung falsche Nachrichten über ihre Absicht, sich nach Osten zurück-zuziehen verbreitet, dann trägt sie sich vermutlich mit der Absicht, etwas Gegenteiliges zu tun. Die List bestand darin, daß es außer der stark gesicherten Kommandozentrale der Schiguli-Höhen, deren Lage zwar schwer zu bestimmen, aber letztlich doch nicht unauffindbar war, noch eine weitere Regierungszentrale gab: einen Eisenbahnzug. Im Kriegsfall konnte diese Kommandozentrale, gedeckt durch mehrere Panzerzüge des NKWD und begleitet von drei Zügen des Volkskommissariats für das Nachrichtenwesen, jederzeit im Bereich der Kampfhandlungen auftauchen. Diese Möglichkeit, sich in unmittelbarer Nähe des Hauptschauplatzes der Kriegsereignisse aufzuhalten, kommt auch in der Bezeichnung dieses Zuges zum Ausdruck: vorgeschobene Hauptkommandozentrale.
Für diese Kommandozentrale waren mehrere sorgfältig gedeckte und getarnte Haltepunkte vorbereitet worden, die bereits in Friedenszeiten zum Anschluß an das Regierungsnachrichtennetz vorbereitet wurden. Die Leitungen brauchten nur noch an die entsprechenden Schaltzentralen in den Zügen angeschlossen zu werden. Es bedarf keiner Erläuterung, daß die mobile Kommandozentrale für einen Angriffskrieg bestimmt war, für eine Situation, in der die eigenen Truppen im zügigen Vormarsch begriffen sind, die Führung aber mit ihren platzraubenden Verwaltungs-und Nachrichtensystemen den angreifenden Fronten und Armeen folgen können muß. In einem Verteidigungskrieg ist es einfacher, zuverlässiger und sicherer, aus dem Arbeitszimmer im Kreml, aus einer unterirdischen Metro-Station in Moskau oder auch aus den Tunnelanlagen in Schiguli die Regierungsgeschäfte zu führen.
Trägt man die verschiedenen kleinen Bruchstücke von Informationen zusammen und fügt sie aneinander, dann können wir mit einiger Sicherheit behaupten, daß sich an der Eisenbahnlinie Minsk-Wilna (näher an Wilna) eine wichtige Kommandozentrale befunden haben muß oder vorgesehen war. Wenige Tage nachdem die deutsche Führung die »Geheiminformation« von der Verlegung des sowjetischen Regierungssitzes nach Swerdlowsk erhalten hatte, setzte die getarnte Verlegung der Sowjetregierung in Richtung Westgrenze in die Regionen Minsk und Wilna ein. Jeder Soldat weiß, wie die Verlegung eines großen Stabes bei Manövern oder unter Gefechtsbedingungen vor sich geht. Die Operative Abteilung wählt den Standort für den künftigen Stab, ein übergeordneter Kommandeur bestätigt die getroffene Auswahl und erteilt die Erlaubnis zur Verlegung. Der Wald, in dem der Stab eingerichtet werden soll, wird abgesperrt, so daß keine Unbefugten Zutritt haben, dann rücken die Pioniere und die Männer der Nachrichtentruppen an, die für die Tarnung und Herstellung der Nachrichtenverbindungen zuständig sind, anschließend taucht der Chef des Nachrichtendienstes der betreffenden Formation (der Division, des Korps, der Armee, des Frontabschnittes) auf und kontrolliert persönlich, ob an dem betreffenden Ort die Nachrichtenverbindungen zu allen wichtigen Teilnehmern zuverlässig funktionieren, und danach endlich erscheint der Stab, dessen Offiziere nur noch ihre Telefone und Chiffriermaschinen an die eingemessenen und zuvor überprüften Nachrichtennetze anzuschließen brauchen.
Die Rote Armee arbeitet in den letzten Wochen vor dem 22. 6. 1941 wie ein einziger wohlregulierter Mechanismus: In den Grenzwäldern tauchen Dutzende von Leitern des Nachrichtendienstes der Schützen- und mechanisierten Korps auf und gleich danach beginnt die heimliche Entfaltung der Gefechtsstände dieser Korps. Unmittelbar darauf erscheinen in einem anderen Waldgelände die Leiter des Nachrichtendienstes der Armeen. Ihre Anwesenheit ist ein Zeichen dafür, daß hier demnächst die Armeestäbe aufkreuzen werden. Es ist ein zuverlässiges Anzeichen und die Stäbe erscheinen in der Tat. Genau am Tage der Verbreitung des TASS-Komuniques stellen sich in abgelegenen Winkeln der unberührten, gut geschützten Wälder, die Chefs der Nachrichtentruppen der Fronten ein. Kaum sind die Nachrichtenverbindungen überprüft, ziehen die Frontstäbe getarnt ihre Kolonnen zur Verlegung auseinander. Jetzt aber ist der Augenblick für einen noch gewichtigeren Chef des Nachrichtendienstes gekommen, sich 150 km vor der Grenze Ostpreußens einzufinden. Und deshalb ist der Volkskommissar für das Nachrichtenwesen, I. T. Peressypkin, heimlich auf dem Weg nach Wilna.
Ob wir wohl erraten können, für wen Peressypkin das Nachrichtennetz überprüft? Der Volkskommissar Peressypkin hat nur einen einzigen direkten Vorgesetzten -den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, den Genossen I. W. Stalin.
Die Fahrt des Volkskommissars für das Nachrichtenwesen in Richtung ostpreußische Grenze erfolgt so, daß niemand davon erfahren kann. Der Volkskommissar benutzt einen gewöhnlichen fahrplanmäßigen Zug, aber hinten ist ein zusätzlicher Sonderwaggon angekuppelt, in dem Peressypkin mit seinen Stellvertretern anreist. Die Fahrt des Volkskommissars für das Nachrichtenwesen ist streng geheim. Sogar die verschlüsselten Meldungen, die Peressypkin aus Moskau empfängt, sind mit seinem Namen unterzeichnet: »Peressypkin«, damit der Chiffrierdienst des Regierungsnachrichtennetzes der Meinung ist, daß sich Peressypkin noch immer in Moskau aufhält und nirgendwohin abgereist ist.
Interessant, was Peressypkin selbst zu sagen hat: »Buchstäblich am Vorabend des Krieges trug mir I. W. Stalin auf, in die baltischen Republiken zu fahren. Diese verantwortungsvolle Aufgabe brachte ich aus irgend einem Grund mit den herannahenden Kriegsereignissen in Zusammenhang. Am Abend des 21. Juni 1941 fuhr ich in Begleitung einer Gruppe verantwortlicher Mitarbeiter des Volkskommissars für das Nachrichtenwesen nach Wilna. Wir waren dahin unterwegs, als der Krieg begann …« (Die Nachrichtentruppen in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges. Moskau 1972, S. 17)
Am Morgen des 22. Juni erhält Peressypkin auf der Station Orscha aus Moskau ein Telegramm:
»HALTEN SIE WEGEN LAGEVERÄNDERUNG NICHT RÜCKKEHR NACH MOSKAU FÜR NÖTIG? PERESSYPKIN« (Die Nachrichtentruppen, S. 32-33)
Peressypkin reist über Bahnstrecken, die nicht nur vollständig vom Militär in Beschlag genommen sind, sondern die oben-drein vor wenigen Tagen den Befehl bekommen haben, sich auf Kriegsbetrieb umzustellen und damit bereit zu sein, unter Gefechtsbedingungen zu handeln. Peressypkin fährt in ein Gebiet, in dem insgeheim riesige Truppenmassen an den Grenzen zusammengezogen werden, die den Befehl haben, »nur das Lebens- und Gefechtsnotwendige« mitzunehmen. (Anfilow, Die unsterbliche Tat,S. 184)
Peressypkin begibt sich auf das Territorium eines Militärbezirks, in dem bereits eine Front existiert, deren Stab bereits streng geheime Unterlagen an Tausende von Befehlsempfängern versandt hat, die vor Kriegsbeginn zu versenden verboten ist. Peressypkin fährt in ein Gebiet, in dem insgeheim eine Regierungskommandozentrale eingerichtet wird. Peressypkin ist auf persönlichen Befehl Stalins unterwegs und weiß, daß diese »Reise mit den herannahenden Kriegsereignissen in Zusammenhang steht«. Doch nun hat Hitler angegriffen, und Peressypkin verläßt seinen Geheimwaggon, greift sich den erstbesten Lkw und braust nach Moskau zurück. Woraus sich folgern läßt, daß der Volkskommissar für das Nachrichtenwesen, Genosse Peressypkin, wenn Hitler nicht angegriffen hätte, in der geheimen Kommandozentrale im Gebiet von Wilna eingetroffen wäre und entsprechend »den herannahenden Kriegsereignissen« gehandelt hätte, das heißt, er würde das militärische Nachrichtennetz mit dem Regierungsnetz und dem Staatlichen Nachrichtenwesen im Kriege koordiniert haben. Aber nun hat Hitler angegriffen und die Reise in den Krieg muß umgehend abgebrochen werden.
Zwar hat Stalin Peressypkin in den Krieg geschickt, dennoch kommt Hitlers Angriff sowohl für Stalin wie auch für Peressypkin völlig unerwartet. Hitlers Angriff stellt eine so ernste »Lageveränderung« dar, daß sie zum Anlaß wird, viele höchstwichtige Maßnahmen der sowjetischen Regierung außer Kraft zu setzen und statt dessen zu improvisieren, bis hin zur Rückkehr des Volkskommissars nach Moskau auf dem erstbesten Lkw.
DIE MITGLIEDER DER SOWJETREGIERUNG WAREN BEREITS IN DEN KRIEG GEZOGEN, IN EINEN KRIEG, IN DEM EINE DEUTSCHE INVASION NICHT VORGESEHEN WAR.
Für dieselbe Nacht war auf derselben Eisenbahnstrecke Moskau-Minsk die Fahrt führender Mitarbeiter des Volkskommissariats für Verteidigung, des NKWD, des Volkskommissariats für Staatskontrolle und die Verlegung anderer wichtiger Regierungseinrichtungen der Sowjetunion in die Westgebiete des Landes vorgesehen. Ziel der Reise war der Krieg. Auf diese heimliche Reise an die Westgrenzen bereiteten sich vor: der Volkskommissar für innere Angelegenheiten, Politbüro-Kandidat und Generalkommissar der Staatssicherheit L. P. Berija, ferner das ZK-Mitglied und Volkskommissar für Staatskontrolle, Armeekommissar L. S. Mechlis, der ZK-Kandidat und Volkskommissar für Verteidigung Marschall der Sowjetunion S. K. Timoschenko und noch weitere führende Persönlichkeiten in Stalins Imperium.
Es ist nicht auszuschließen, daß selbst Stalin zu einer solchen Geheimreise nach Westen Vorbereitungen traf. Für jeden dieser Staatsfunktionäre war eine gemischte Begleitgruppe aus höchsten Vertretern der am stärksten betroffenen kriegswichtigen Volkskommissariate zusammengestellt worden. Am Morgen des 21. Juni 1941 war die Aufstellung dieser operativen Gruppen abgeschlossen. Jede Einsatzgruppe wartete nur noch auf ihren Leiter, der sich zu der Zeit im Kreml auf einer letzten Sitzung des Politbüros befand, um ihn dann insgeheim in den Krieg zu begleiten. Sämtliche Mitglieder dieser operativen Gruppen wissen am Morgen des 21. Juni, daß es in den Krieg geht. Ja, sie kennen sogar Minsk als Bestimmungsort (was auch stimmt), aber nicht Wilna, bis wo es von Minsk nur noch ein Katzensprung ist.
Alle Mitarbeiter dieser Einsatzgruppen wissen, daß sich die Sowjetunion bereits im Kriegszustand mit Deutschland befindet, obgleich der Krieg offiziell noch nicht erklärt ist und obgleich die Kampfhandlungen noch nicht begonnen haben. Eben deshalb werden die Gruppen ja insgeheim nach Westen transferiert, damit diese Kampfhandlungen beginnen können!
Eines ist jedoch erstaunlich: Niemand — einschließlich der Führer dieser Gruppen, die zur Zeit im Kreml tagen – argwöhnt eine bevorstehende deutsche Invasion. Ja, mehr noch, als darauf hinweisende Informationen am Abend wie eine Sturzflut hereinzubrechen beginnen, weigern sich die höchsten sowjetischen Führer, daran zu glauben. Aus dem Kreml, aus dem Volkskommissariat für Verteidigung, aus dem Generalstab hagelt es entsprechende Direktiven in Richtung Grenze und drohende Anschnauzer per Telefon, sich keinesfalls auf irgendwelche Provokationen einzulassen.
Das führt zu der zwingenden Frage: Wenn die sowjetischen Führer nicht an die Möglichkeit einer deutschen Invasion glaubten, in was für einen Krieg gedachten sie dann zu ziehen?
Und es bleibt nur eine Antwort: Sie waren auf dem Weg in einen Krieg, der ohne deutsche Invasion beginnen sollte.
Die Begleitgruppen der Staatsfunktionäre verbringen qualvolle Stunden des Wartens und schließlich teilt man ihnen um 6 Uhr morgens am 22. Juni mit, daß die Reise an die Westgrenze gestrichen sei, weil Hitler den Krieg begonnen hat. Hätten sich die sowjetischen Staatsfunktionäre auf die Reise in die heimlichen Gefechtsstände an den Westgrenzen vorbereitet, um die deutsche Invasion aufzuhalten, dann hätten sie auf das Signal hin, daß eine solche Invasion begonnen habe, nach Westen eilen müssen, aber sie sagen ihre Reise in den Krieg ab. Sie waren willens gewesen, an der Grenze anzutreten, um im Krieg eine leitende Rolle zu übernehmen, aber nicht in einem Krieg, der nach einer deutschen Inszenierung statt einer sowjetischen abläuft.
Hitler hatte sie um dieses Vergnügen gebracht. Ich zitiere einen ganz normalen Standardbericht. Mein Zeuge D. Ortenberg bekleidete am 21. Juni 1941 das Amt eines Leiters der Organisations- und Instruktorenabteilung im Volkskommissariat für Staatskontrolle. Er selbst umreißt seine Funktion als »militärisch ausgedrückt, eine Art Stabschef«.
Generalmajor D. Ortenberg, Sie haben das Wort:»Man fragt mich bisweilen:>Wann hat für Sie der Krieg begonnen?< >Am einundzwanzigsten Juni.< > ? ! < Ja, so ist es gewesen…
…Am Morgen wurde ich in das Volkskommissariat für Verteidigung bestellt, wo man mir sagte, daß eine Gruppe von Mitarbeitern des Volkskommissariats unter der Leitung von Marschall S. K. Timoschenko nach Minsk fahren würde. Man teilte mir mit, daß ich dazugehören würde. Mir wurde vorgeschlagen, nach Hause zu gehen, meine Uniform anzuziehen und mich im Volkskommissariat einzufinden … Der Anmelderaum im Volkskommissariat für Verteidigung war vollgestopft mit Leuten in Uniform. Sie hatten Aktendeckel und Landkarten bei sich und waren sichtlich aufgeregt. Die Unterhaltungen werden im Flüsterton geführt. Timoschenko ist in den Kreml gefahren … Am 22. Juni um fünf Uhr morgens kam der Volkskommissar aus dem Kreml zurück. Er rief mich zu sich:>Die Deutschen haben den Krieg begonnen. Unsere Fahrt nach Minsk findet nicht statt<.« (D. Ortenberg, Juni-Dezember einundvierzig. Moskau 1984, S. 5-6)
Man weiß nicht, woher die Legende stammt, Hitler habe am 22. Juni 1941 den Krieg im Osten begonnen und fast mit Gewalt die Sowjetunion in den Krieg hineingezogen. Hören wir dagegen auf diejenigen Personen, die sich tatsächlich in jenen Tagen, Stunden und Minuten in unmittelbarer Umgebung der sowjetischen höchsten Führer befanden, dann sieht alles ganz anders aus:
Am 22. Juni 1941 hat Hitler den sowjetischen Kriegsplan vereitelt; da hat Hitler seinen Krieg auf das Territorium verlegt, in dem ein anderer Kriegsplan am 19. August 1939 geboren worden war. Hitler hat den sowjetischen Führern nicht erlaubt, ihren Krieg so zu führen, wie sie das vorgesehen hatten, indem er sie zu improvisieren und das zu tun zwang, worauf sie nicht vorbereitet waren:
Sie mußten ihr eigenes Territorium verteidigen. Nicht ich habe mir das alles ausgedacht. Das sagen sowjetische Generale. (Quelle: Viktor Suworow – Der Eisbrecher S. 418)
Da Stalin seine Ansichten und Pläne nicht vortrug und erläuterte, glaubte man, daß er keine habe -ein typischer Fehler geschwätziger Intellektueller. Robert Conquest (Am Anfang starb Genosse Kirow, S. 98)
Linkverweise:
Viktor-Suworow-DER-EISBRECHER-Hitler-in-Stalins-Kalkul - kostenlos online lesen, bei scribd.
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