Wie hättest Du Dich entschieden?


Wie hättest Du Dich entschieden?
Ihr Lieben,
heute Abend möchte ich Euch eine sehr nachdenkliche Geschichte von Helmut Ludwig und Walter Wanner erzählen:

„Die Entscheidung“

„Roberto Perez war Weichensteller im Außenstellwerk der Nord-Süd-Strecke der Transbrasilienbahn. Die nächste Ortschaft lag drei Kilometer vom kleinen Stellwerk entfernt.
Roberto hatte einen verantwortungsvollen Dienst zu tun.
Besonders in der Mittagszeit, wo weit und breit die Siestastille über dem Land lag, galt es aufzupassen, um den sekundenschnellen Anschluss beim Umstellen der Weiche nicht zu versäumen. Hunderte von Menschen saßen meist im Schnellzug, der vorbeiraste, nachdem der Eilzug von der Gegenseite passiert hatte. Die Sekundenarbeit war eine Engstelle im oft weitmaschigen Fahrplannetz. Aber sie war nicht zu vermeiden, um den Plan der Transbrasilienbahn mit den wichtigen Hauptstationen nicht umzustoßen.

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 Darum brauchte man an diesem Stellwerk einen verantwortungsbewussten, absolut verlässlichen Weichensteller, der auch in Ausnahmefällen blitzschnell reagieren konnte.
Roberto Perez erfüllte diesen wichtigen Außenstellendienst der Transbrasilienlinie seit acht Jahren. Die Familie wohnte im drei Kilometer entfernten Ort, der abends, nach der Ablösung für Roberto Perez, mit dem Fahrrad schnell erreichbar war. Die Straße verlief eben, wenn sie auch in weitem Bogen die schurgerade Strecke des Schienenwegs umwand.

Vasco, der sechsjährige Sohn Robertos, der Stolz und die Freude der Familie, brachte dem Vater täglich rechtzeitig vor der Engstelle der Kreuzung beider Züge das Mittagessen. Und da die Strecke um diese Zeit stets frei und unbefahren war, wählte er den kürzeren Schienenweg und hopste fröhlich von Schwelle zu Schwelle, den Behälter mit Vaters Mittagessen in der Hand.

Eines Tages hatte sich Vasco verspätet. Der Vater wartete bereits ungeduldig und fürchtete, es könnte etwas passiert sein. Nicht auf der Strecke, die war frei. Und es gab keine Bestimmung, die den Jungen an der Wahl seiner Abkürzung hinderte.

Ungeduldig schaute Roberto Perez den Schienenstrang entlang, ob Vasco nicht endlich weit unten sichtbar würde. Aber er ließ auf sich warten. In letzter Minute sah ihn der Vater heranspringen. Vielleicht hatte er sich unterwegs wieder aufgehalten, hatte eine Schlange beobachtet, wie schon einmal vor Wochen.

Vasco kam näher. Die Zeit drängte. Gleich musste der Eilzug durchkommen, dann kam das Signal und Roberto hatte blitzschnell die Weiche umzustellen, damit der Transbrasilien-Schnellzug, der Nord-Süd-Express, nicht aufs falsche Gleis geriet und bei der Einfahrt in den Stadtbahnhof auf den abfahrbereiten Personenzug prallte.

Roberto Perez hörte das Pfeifsignal des Eilzuges und winkte seinem Jungen aufgeregt zu. Vaso sprang schneller und hatte wohl auch die Gefahr erkannt, in die er durch seine Verspätung geraten war. Noch wenige Schwellen und der Junge war am Außenstellwerk. 

Da passierte das Unglück. Er rutschte von einer Schwelle ab, stürzte, schlug mit dem Kopf gegen die Schiene, das Gefäß mit dem Mittagessen zerbrach. Vasco blieb liegen, war offenbar einen Augenblick besinnungslos, während auf dem Nebengleis der Eilzug vorbeiraste. Im Stellwerk schrillte das Signal.

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Roberto musste die Weiche sofort umstellen, um den Schnellzug nicht zu gefährden. Aber da draußen lag sein Junge auf dem Gleis, auf dem der Transbrasilien-Schnellzug gleich vorbeirasen würde. Roberto wusste, dass nach dem Handgriff zum Umstellen der Weiche keine Zeit mehr blieb, den Sohn von den Schienen zu reißen. Die Engstelle wurde zur schrecklichen Falle.
Ließ er die Weiche stehen, wie sie stand, war der Junge gerettet. Aber der Schnellzug würde auf dem falschen Gleis mit Volldampf den Stadtbahnhof durchrasen, wo er keinen Halt zu machen hatte. Und der Personenzug stand auf diesem Gleis. Es gab keine andere Möglichkeit, die Weiche musste herumgerissen werden.

Der Express heulte heran. Roberto Perez brach der kalte Schweiß aus. Den Express jetzt noch stoppen zu wollen, war völlig aussichtslos, reiner Wahn. Ihn durch Nichtbetätigung der Weiche auf den Personenzug im Stadtbahnhof prallen zu lassen, war hundertfacher Mord. Aber konnte man von ihm verlangen, dass er den Express durch die Weichenstellung über den eigenen Sohn rasen ließ? Wahnsinn auch das! Roberto glaubte für einen Moment, den Verstand zu verlieren.

Er schrie auf, als er den Griff zur Weichenstellung tat: "Vasco!"
Und der Schrei drohte die stickige Enge des kleinen Außenstellwerkes explodieren zu lassen. Der Schlag des Entsetzens elektrisierte den Vater in allen Gliedern, als er den Hebel herunterriss, während der Leib der schwarzen Lok des Expresszuges ins Ungeheuerliche wuchs und wie ein Gespenst vorbeiheulte, zwanzig Wagen nach sich ziehend.
Roberto Perez brach zusammen, nachdem er den Weichenhebel heruntergerissen hatte. Der Express war über den Körper seines Sohnes hinweg gerast und entschwand zum Schnittpunkt der Schienenfluchtlinie.

Ein Vater hatte das Leben seines Sohnes geopfert, um das Leben vieler Menschen dem Rachen des Todes zu entreißen. Als Roberto Perez nach seinem Zusammenbruch am Weichenhebel erwachte, war er ein alter Mann geworden, der in die Siestastille über dem Land gellende Schreie hörte.
Zu dieser Zeit fegte der Express ungehindert durch den Stadtbahnhof dem Süden entgegen.“


Ihr Lieben,

heute Abend möchte ich von einer Eigenschaft sprechen, die heute nicht mehr sehr aktuell ist, ich meine die Demut.

Niemandem, nicht einmal seinem eigenen ärgsten Feind möchte man das wünschen, was dieser Vater erlebt, denn diese Geschichte hat sich so tatsächlich in den 1960er Jahren in Brasilien zugetragen.

Welche eine grauenhafte Entscheidung, vor der Roberto Perez stand:
Entweder seinen Sohn zu opfern oder Hunderte von Menschen in den Tod zu schicken.

Zum Glück – und da sollten wir jeden Tag tief in unserem Herzen ganz dankbar sein – stehen wir alle in unserem Leben höchstwahrscheinlich niemals vor so einer weitreichenden Entscheidung.
Und das ist auch gut so.

Dennoch hat uns diese Geschichte sehr viel zu sagen:
Sie lehrt Demut, Demut dahingehend, zu beurteilen,
was andere Menschen getan haben.

Ich bin immer wieder erschrocken, wie schnell Eltern und Großeltern oft bereit sind, ihre eigenen Kinder und Enkelkinder, wenn sie in der Pubertät sind, zu verurteilen, wenn sie von anderer Seite gehört haben, was ihre Kinder und Enkelkinder angeblich getan haben.

Ich würde mir wünschen, dass diese Eltern und Großeltern demütig wären und erst einmal den Mut hätten, mit ihren Kindern und Enkelkindern zu sprechen, um deren Sicht der jeweiligen Angelegenheit zu hören.
Ich mag keine Menschen, die vorschnelle Urteile fällen, die immer schon gleich wissen, was angeblich wirklich geschehen ist, obwohl sie ihr Wissen nur aus zweiter oder dritter Hand haben.
Und wieder ist unsere deutsche Sprache so klug:
Demut“ wird oft mit Unterwürdigkeit verwechselt, dabei steckt in dem Wort „De-mut“ das Wort MUT, denn es erfordert Mut, sich eine eigene Meinung zu bilden. Es erfordert Mut, sich hinter sein eigenes Kind, sein eigenes Enkelkind zu stellen, ihm den Rücken zu stärken und zu ihm zu halten.
Demut ist eine wunderbare Eigenschaft, weil sie sich eine eigene Meinung bildet und den Mut aufbringt, sich auf die Seite eines vielleicht unschuldigen Schuldigen zu stellen.
Roberto Perez war nach dem grauenvollen Unfall ein gebrochener Mann, innerhalb weniger Wochen wurden seine Haare schneeweiß und etwa 10 Jahre nach dem Unfall beging er Selbstmord.

Und warum?
Weil seine Frau, seine Familie, seine anderen Kinder und viele Freunde, Bekannte und Verwandte ihm immer wieder den schweren Vorwurf machten, nicht im Vorwege darauf geachtet zu haben, dass sein Sohn nicht täglich über die Schienen lief.

Immer wieder, solange es Menschen gibt, werden auch Fehler gemacht werden.
Demütig zu sein, bedeutet dann, den Menschen, der einen Fehler begangen hat, nicht zu verurteilen, sondern zu ihm zu stehen und in Demut dankbar zu sein.
Denn wer wirklich demütig ist, erkennt, dass auch er einmal unbeabsichtigt einen Fehler machen könnte, der grauenvolle Folgen hat.
So könnte jemand z.B. in Gedanken über eine Straße gehen, ohne auf den Verkehr zu achten, und zwei Autos weichen ihm aus und fahren ineinander, wobei ein Mensch zu Tode kommt.
Demütig ist, der dann dankbar dafür ist, dass ihm dann, wenn er einen solchen Fehler gemacht hat, auch jemand zur Seite steht.

Ich wünsche Euch einen guten und kraftschenkenden Schlaf und grüße Euch herzlich aus Bremen

Euer nachdenklicher Werner 

Wie hättest Du Dich entschieden?

Quelle: Karin Heringshausen



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