„Vielleicht beginnen wir mit der scheinbar einfachen Frage: Was ist Geschichte? Fällt Ihnen dazu etwas ein, Webster?“
„Geschichte ist die Summe der Lügen der Sieger“, antwortete ich etwas zu rasch.
„Ja, ich habe befürchtet, dass Sie das sagen würden. Nun gut, solange Sie im Auge behalten, dass sie auch die Summe der Selbsttäuschungen der Besiegten ist.“
Julian Barnes: „Vom Ende einer Geschichte“, 2011
Zwischen 1939 und 1945 überzogen die Deutschen Europa mit Krieg. 1968 gingen in vielen europäischen Städten nicht nur Studenten auf die Straßen und 1989 erklärte Günter Schabowski den wartenden Journalisten eine „zeitweilige Übergangsregelung für die ständige Ausreise“. Um all jene Themen geht es nicht in dem 2011 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman „The Sense of an Ending“, der sich den Staats-, Kriegs-, Militärgeschäfte verweigert und sich nicht anmaßt, die Frage zu beantworten: Was ist Geschichte? Der von Julian Barnes eingesetzte Ich-Erzähler ist sich nicht einmal sicher, was seine eigene Geschiche ist.
„Geschichte ist ein Sandwich mit rohen Zwiebeln, Sir.“
„Warum das?“
„Sie stößt einem immer wieder auf, Sir. Sie rülpst.“
Tony Webster stößt einiges auf. Mitte 60 und im Ruhestand verbringt er seine Zeit damit, die Bibliothek des örtlichen Krankenhauses zu pflegen, losen Kontakt zu seiner Tocher zu halten und darüber hinaus Frauen aus dem Weg zu gehen. Er ist Pensionär, ihm geht es gut in dieser ruhigen und langweiligen Welt.
„Außerdem entwickelte ich in meinem nun leerer gewordenen Leben verschiedene Ideen, die ich als »Projekte« bezeichnete, vielleicht, um sie realisierbar klingen zu lassen.“
Einmal war er verheiratet gewesen, die guten Beziehungen, die er zu Margaret, seiner Ex-Frau unterhält, pflegt er. Zwei Kumpel. Das war es schon. Bis ihm testamentarisch das Tagebuch seines Jugendfreunds Adrian vermacht wird, damit gleich noch 500 Pfund. Blutgeld, wie jemand später sagen wird. Adrian, bester Freund während der Schulzeit, der vom heiß verehrten Idol herabsank, da er Tony die Freundin wegschnappte und wenige Zeit später sich in einer Badewanne die Pulsadern aufschnitt. Beinahe vergessen und nun wieder da. Die Geschichte hat gerülpst.
Doch kein Tagebuch. So sehr Tony die gemeinsame Freundin bittet, ihm diese Blätter zu schicken, so unerbittlich lehnt jene ab. Tony muss selbst Geschichtsforschung treiben, wobei ihm schon einmal die Arbeitshypothese fehlt. Weder weiß er, was er sucht, noch weiß er, wie er etwas finden soll. So forscht er in der eigenen Erinnerung.
„›Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen‹.“
„Ach ja? Wo haben Sie das her?“
„Lagrange, Sir. Patrick Lagrange.“
Alex denkt sich durch, der Leser landet gleich zu Beginn des ersten Kapitels mitten in den 60er Jahren, nimmt teil an Unterricht, Diskussionen und ersten Liebschaften. Barnes tut dies nicht plakativ, er lässt den Ich-Erzähler die Distanz wahren – sofern dies denn möglich ist, da betreibt einer Geschichtsforschung am eigenen Leben. Spiralförmog treibt Tony Stollen zurück in die Vergangenheit, bleibt dabei doch stets in der Gegenwart haften und damit an den Sichtweisen, die sich erst durch das entwickeln konnten, was war und ihn zu dem werden ließen, der er nun ist. Doch wer er ist, darüber will Tony Auskunft haben.
„Wir leben mit so einfachen Annahmen, nicht wahr? Zum Beispiel, dass Erinnerungen Ereignisse plus Zeit sind. Dabei ist alles viel seltsamer. Wer hat noch mal gesagt, Erinnerung sei das, was wir meinten vergessen zu haben? Und es sollte uns doch klar sein, dass die Zeit nicht wie ein Fixativ wirkt, sondern wie ein Lösungsmittel. Es kommt uns aber nicht gelegen – es ist nicht nützlich für uns –, das zu glauben; es hilft uns nicht dabei, mit unserem Leben zurechtzukommen; darum ignorieren wir es.“
Der Roman lebt von diesem Dialog, den Tony mit sich selbst führt. Scheinbar an einen imaginären Leser gerichtet, bricht er oft Schilderungen ab, hebt sich auf die Meta-Welle, diskutiert erkenntnistheoretische Probleme, und surft wieder mitten hinein in die Strömung des Erinnerns. Auskunft von anderen erhält er wenig. Es gelingt ihm zwar, die gemeinsame Freundin, Veronica – die Zimtschnecke, zu treffen, vierzig Jahre nachdem sie mit ihm Schluss gemacht und zu Adrian gewechselt war. Doch jene ist nicht mit überquellender Mitteilungsfreude gesegnet. Ihre Kanten und die Rätselhaftigkeit, mit der sie Tony begegnet, legen bei ihm weitere Schichten der Vergangenheit frei.
„[...] am Ende ist das, was man in Erinnerung behält, nicht immer dasselbe wie das, was man beobachtet hat.“
Erzähler wie Erinnerer sind nicht verlässlich. Gemeinsam mit seinem Leser erörtert Tony unterschiedliche Varianten: dessen, was geschehen sein mag, dessen, was Ursache und Folge gewesen sein mochte, dessen, was hätte sein können. Man dreht sich bald im Kreis und das macht unglaublich viel Spaß. Julian Barnes geht nicht akademisch an das Thema heran, das zu oft an die Akademie und deren Sprache ausgelagert wird. Tatsächlich befindet es sich mitten im Leben, es ist das Leben, die conditio humana, an der Tony sich abreibt – und wir dürfen ihm dabei zuschauen.
„In jungen Jahren kann man sich an sein kurzes Leben in seiner Gesamtheit erinnern. Später wird die Erinnerung etwas aus Fetzen und Flicken Zusammengestoppeltes.“
The Sense of an Ending, der englische Titel umfasst das Thema des Romans wesentlich treffender wie der im Deutschen eben doch auf ein Ende hinzielende, wurde 2011 mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Gut!
Bruten Butterwek