Wider den Selbstbetrug …

Den folgenden Text habe ich im vergangenen Sommer auf Einladung des Frankfurter Literaturhauses für das Projekt 95 Anschläge- Thesen für die Zukunft geschrieben. Das Buch dazu ist im S. Fischer Verlag erschienen und versammelt viele spannende und kontroverse Essays, außerdem gibt es eine ganze Reihe Veranstaltungen zum Thema.

Was meinen eigenen Text angeht - ich habe ihn geschrieben vor Brexit, vor Trump, vor sehr vielen anderen Ereignissen und Dingen. Komisches Gefühl, dass sich die Welt inzwischen nur weiter in diese Schraube gedreht hat und die eigenen Worte einem fast schon redundant vorkommen ... Hier also der Text.

Schluss mit dem Selbstbetrug - Deutschland ist ein rassistisches Land!

„Ach, mit ein bisschen Luftanhalten passt die Hose noch!".

„Ist doch ganz normal, dass man sich nach zehn Jahren Ehe nicht mehr viel zu sagen hat!". „Naja, so schlimm ist mein Chef nun auch wieder nicht!"

Wir belügen und betrügen uns tagtäglich selbst, wann und wo immer wir können. Das hilft, das ist bequem, das lullt ein in eine kleine heile Welt, wie sie uns gefällt. Eine Welt, in der wir nicht handeln müssen. Zumindest nicht, ehe es wirklich brennt - also ehe der Hosenbund in aller Öffentlichkeit reißt, ehe die Gattin mit dem Fitnesstrainer durchbrennt, ehe man vor lauter Burnout im Büro Amok läuft.

Deutschland 2016: Pegida, AfD, brennende Flüchtlingsheime. „Ich bin ja kein Rassist, aber ...". Menschen mit fremd klingenden Namen haben durchweg eklatant schlechtere Chancen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, im Bildungssektor. Kann man beim Bundesamt für Statistik nachfragen. Weißes Bürgertum, das seine Kinder zunehmend in Privatschulen unterbringt - „wegen der vielen Migranten". Verrohte Rhetorik allerorten, nicht nur bei den vermeintlich bildungsfernen Schichten. Rotweinrassismusrhetorik bei Galerieeröffnungen, im öffentlichen Dienst, in Krankenhäusern. Schärfere Grenzen, größere Klüfte zwischen einzelnen Gruppen unserer schönen Gesellschaft.

Was ist passiert? Das Ausbleiben politischer, sozialer und gesellschaftlicher Bildung , seit in den 1980er Jahren die letzten ernsthaften Anti-Atom-Proteste abgeebbt sind. Und unsere Eltern sich nach der Wende in den Armen lagen und, auf die Schulter geklopft haben: Wir haben Weltfrieden gemacht!" Meine Generation hat das geglaubt. Sie hat geglaubt, ihr liege die Welt zu Füßen, und sie müsse nichts dafür tun. Wir haben weggesehen und uns gefeiert, wir hatten nichts, wofür man hätte kämpfen können oder müssen oder wollen. Denn uns kann ja nichts passieren.

Nun haben wir den Salat. Und wissen uns nicht anders zu helfen, als wegzuschauen. „Ach, Pegida wird sich von selbst erledigen", sagen wir. „Das sind doch nur ein paar Idioten, Einzelerscheinungen." Das Offensichtliche einmal mehr kleinreden. Denn wir, die wir ja die Tollsten sind und uns dafür unser Leben lang gefeiert haben - wir können doch nicht ernsthaft ein rassistisches Land sein.

Doch, sind wir. Die Fakten lügen nicht. Das müssen wir anerkennen, müssen aufwachen und einsehen, dass die Hose schon seit Jahren zu eng, die Frau schon seit Monaten untreu ist. Und dann nach vorn schauen. Angst lähmt - vor dem Fremden auf der einen, vor der Verrohung und dem Schwinden unserer heilen Welt auf der anderen Seite. Und wie sollen denn Kinder ohne Angst aufwachsen, wenn ihre Eltern sie und sich selbst, so in Watte gepackt, abschotten und immer weiter einlullen. Wie sollen sie denn lernen, was gesellschaftliche Verantwortung ist, wenn ihre Eltern lieber über Chia-Samen und Grüne Smoothies reden als über Politik? Wenn die Kinder in Chinesischkurse für Frühbegabte gesteckt werden, statt in den Fußballverein um die Ecke?

Ich sage: Schluss mit dem Einlullen, Schluss mit dem Selbstbetrug, Schluss mit dem Eskapismus. Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung, heißt es. Also: Bringen wir den Kindern bei, was genau „Die Würde des Menschen ist unantastbar" eigentlich bedeutet. Und wie schön das ist, dass wir in einem Land leben, wo solche Sätze im Grundgesetz stehen.


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