Wer ohne Schuld ist ...

Ein kurzer Abriss zur alten, aber immer noch beliebten Partnerschaft zwischen Krankheit und Schuld.
Die Mainzer Universität befragt im Rahmen einer Studie Bürger, wie diese zum Thema "Selbstverschuldet erkrankt - Behandlung aus eigener Tasche bezahlen?" stehen. Dieses Verfahren findet Kritik. Mancher vermutet dahinter den Versuch einer weiteren Verschärfung der Entsolidarisierung im Gesundheitswesen. Mittlerweile scheint selbst der Rückgriff auf mittelalterliche Vorstellungswelten als Mittel zum Zweck recht zu sein.

Schon in "Auf die faule Haut" weise ich darauf hin, dass sich das etwas antiquierte Wort für Qual oder Leid, das Wörtchen "Pein" (englisch pain, spanisch pena, französisch peine) vom lateinischen poena, "der Schuld" ableitet. Ein Gepeinigter ist demnach der Wortherkunft nach jemand, der eine Schuld auf sich geladen hat.

Wer ohne Schuld ist ...

Die Flagellanten wollten sich durch
Selbstgeißelung von der Sünde reinigen
und so die Pest ausrotten.

Knüpft man Krankheit an etwaige Schuldfragen, so zapft man direkt die Vorstellungswelt jener Chronisten an, die zum Beispiel den Pesterkrankten für einen Bestraften aufgrund schlechten Lebenswandels ansahen. Bis weit in die Neuzeit hielt sich diese Ansicht, wonach Krankheit immer auch die Strafe für ein Fehlverhalten im Leben war. Die Sünde und die Krankheit waren seit alters miteinander verbunden. Wer sich versündigte, den strafte die Schwindsucht. Was im Mittelalter noch Unwissenheit war, war später einfach nur der ignorante Sport einer calvinistisch abgerichteten und letztlich selbstgerechten Bourgeoisie.
In der Esoterik entblödet man sich bis heute nicht, dieses überholte Weltbild offensiv zu verfechten. Da spricht man ganz ungeniert von negativen Energien, die man im Laufe seines Lebens auf sich gezogen habe und die nun in den Krebs mündeten. Die Heilerin Catherine Ponder schreibt in einem ihrer Bücher: "Krankheit ist selbst verursacht! Krankheit wird durch falsche Gedanken, Einstellungen und Glaubenssätze ausgelöst, die den Körper tangieren und durchdringen und dabei die Lebenskraft drosseln. Neid, Hass und Angst - wenn solche Gefühle zur Gewohnheit werden, können sie organische Veränderungen und letztlich Krankheit auslösen."
Natürlich ist die Universität Mainz kein esoterischer Klub - und dass Krankheit nicht von der Sünde kommt, dürfte sie auch wissen. Gleichwohl bringt sie Schuld und Krankheit wieder zueinander, wenn auch auf etwas andere Weise als unsere Vorfahren. Die Medizin, die im Laufe vieler Jahrhunderte immer tiefer ins Wesen der Krankheit vordrang, hat sich irgendwann von dieser spröden Ethik gelöst, die meinte, sie müsse den moralischen Aspekt von Erregern oder unkontrollierbaren Zellveränderungen aufs Tapet bringen. Mit der Anhäufung und Dokumentation von Wissen war für diese Ethik der Schuldzuweisung kein Platz mehr.
Zu den historischen Errungenschaften der Medizin gehört primär die Heilung und Ausrottung vieler Krankheiten, die einst als unheilbar galten - sekundär ist es ihr Verdienst, dass sie die moralische Begutachtung von Kranken als wenig zielführenden Humbug enttarnte. Die ärztliche Verpflichtung, jeden helfen zu sollen, der medizinische Hilfe benötigt, dokumentiert nachhaltig diese Errungenschaft und unterstreicht, dass sich die Medizin als ein Betätigungsfeld falscher Moralvorstellungen historisch überholt hat. Medizin hat sich als ein mehr oder weniger ethisch neutraler Raum manifestiert. (Mit all seinen Nachteilen, als man ganz neutral dem Biologismus bestimmter politischer Gruppen attestierte.) Die Universität Mainz weicht mit ihrer Fragestellung diese Neutralität auf und baut dabei wie die mittelalterlichen "Moralisten der Krankheit" auf fadenscheinige Anschauungen.
Nur ein kurzer Einwurf: Über die Auswirkungen der Einschränkung der Kassenleistungen nach Maßgabe von Schuldaspekten, will ich hier so gut wie gar nicht spekulieren. Nur soviel: Ein französisches Sprichtwort sagt, dass die meisten Menschen an ihren Ärzten sterben, nicht an ihren Krankheiten. Dieser Spruch kann nur in einem Gesundheitswesen entstanden sein, das intakt war - wo die Schuld als Bestandteil der Anamnese auftaucht, da sterben Menschen wieder "ganz natürlich" an ihren Krankheiten, weil sie sich einen Arzt nicht mehr leisten können.
Die Uni Mainz weiß zwar, dass man wegen des Schielens auf die Frau des Nachbarn keine Krätze bekommt, meint aber mit "selbstverschuldet erkrankt" Patienten, die womöglich Risikosportler sind. Wie die Zeitgenossen von 1347 fehlerhaft Erklärungen herleiteten, so scheinen die Verantwortlichen der Studie ebenfalls falschen Herleitungen durch bloßen Augenschein aufgesessen zu sein. Denn tatsächlich ist es der Breitensport und nicht der Extremsport, der mehr medizinische Behandlungen nach sich zieht. Die Verantwortlichen der Umfrage kitzeln die üblichen Konnotationen der Bürger, suggerieren, es gehe um Fallschirmspringer oder Bergsteiger, um Randgruppen also. Sie ähneln dabei jenen, die einst im ungehörigen Leben vor Gott die Ursache von Krankheit vermuteten - das ungehörige Sporteln vor der Gesellschaft ist das zeitgemäße Pendant dazu.
Addiert man alle Patienten- und Risikogruppen all die Dicken und Raucher, die Herzpatienten, die trotzdem ein nervenaufreibendes Fußballspiel verfolgen, die Choleriker, die sich trotzdem aufregen, die Frauen, die trotzdem bei ihren gewalttätigen Männern bleiben, zusammen, so gibt es keine Kranken mehr, die unverschuldet krank wurden. Wer jetzt noch ohne Schuld ist, der werfe Steine. Die Uni Mainz schlägt die Etablierung der Schuld, die ethische Bewertung der Krankheit, als ein generelles Kriterium im Gesundheitswesen vor. Es geht nicht um Randgruppen, sondern führt direkt zu einer generellen Selbstbeteiligung bei allen Behandlungen.
Das was die Universität Mainz betreibt ist keine medizinische oder soziologische Studie, es ist unbewusste Mediävistik, ein Mittelalterjahrmarkt mit pseudoelitärer Attitude und einem Hauch calvinistischer Prädestinationslehre.

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