"In einen gelben Umschlag verpackt, den ich noch immer vor mir sehe, trat plötzlich die weite Welt in das Dorfleben meiner Kindheit: Heinrich Harrers Buch „Sieben Jahre in Tibet“ hat mir als Volksschüler im Salzburger Land zum ersten Mal die Faszination einer fremden Welt und einer ganz anderen Religion eröffnet. Und bevor ich von Paris oder New York wusste, war Lhasa die Stadt meiner Träume."
“Wer nicht liest, kennt die Welt nicht“, hat Arno Schmidt kurz und bündig formuliert. Möglichst viel zu erleben reicht dafür nicht aus, denn erst aus der Deutung von Erlebtem wächst Erfahrung und Weltkenntnis. Lesen ist ein Ort, wo jeder und jede einen neuen Blick auf die Welt ausprobieren kann.Lesen heißt in diesem Fall freilich: Nicht Informationstexte aufsaugen, sondern eintauchen in fiktive literarische Welten. „Indem fiktionale Texte uns dazu veranlassen, unsere ursprünglichen Urteile über diese oder jene Menschen zu überdenken, helfen sie uns, uns aus unserer Vergangenheit und kulturellen Umwelt zu lösen“, schreibt Richard Rorty in seinem Essay „Der Roman als Mittel der Erlösung aus der Selbstbezogenheit“.
Fremde Länder und Kulturen – um sie kennenzulernen, braucht es nicht nur Reiseführer oder politische und soziologische Analysen. Literatur findet und erfindet Bilder für Mentalitäten und Lebenszusammenhänge, und die wirken oft nachhaltiger als Theorien. So ist Literatur die intensivste Brücke in unbekannte Regionen, aber auch in die Vergangenheit der eigenen Gesellschaft. Das Leben früherer Generationen ist in der Literatur am besten aufbewahrt – aber nicht als tote, „konservierte“ Materie, sondern so, dass wir zu Mitspielern werden.
Originaltext beim ORF