Wenn verzwickte Blähungen im Hirndarm die Welt ins Unglück reißen

Moorland von Gernot Plass im Theater an der Gumpendorfer Straße (TAG) in Wien

Moorland von Gernot Plass im TAG in Wien – Foto: Anna Stöcher

Bleichgesichtig mit schütteren Haaren sitzt der Alte auf seinem Stuhl. Seinem Ältesten nachsinnend, der in der Ferne, lange nichts mehr von sich hören ließ. 4 Arme hat der Greis und 4 Beine und natürlich auch 4 Köpfe. Wenn er spricht, dann gewaltig aus 4 Mündern oder abwechseln aus dem einen und dem anderen, rasch hintereinander. Ein Monster ist er, ein Über-Vater, dem nicht beizukommen ist und der noch dazu Franz, den Zweitgeborenen lang nicht jene Liebe entgegenbringt wie dessen Bruder Karl, der sich in der Ferne, in Leipzig aufhält. In der Interpretation von Gernot Plass wird der Vater in Schillers „Die Räuber“ zu Beginn von 4 Personen gleichzeitig gespielt. Franz, der sich zur rundum bekannten Kanaille entwickeln wird, hat ihm nichts entgegenzusetzen außer einen ganzen Haufen Lügen, Verleumdungen und Irreführungen. Er ist gezwungen zu diesen Mitteln zu greifen, um das zukünftige Erbe nicht seinem verhassten Bruder überlassen zu müssen. Weder seine Intelligenz noch sein Aussehen kommen an das von Karl heran und seiner Minderwertigkeit bewusst beschließt er, sich gegen sein determiniertes Schicksal als ewig Zweiter aufzulehnen. Julian Loidl als Ränke schmiedende Missgeburt mimt im TAG aufs Glaubwürdigste jenen Fiesling, dem das Leben seines Vaters im Wege steht, der sich die Geliebte seines Bruders aufs Brutalste aneignet, und dem es auch in den letzten Lebensminuten nicht gelingen wird, religiöse Gefühle in sich zu erwecken, um so etwas wie einen kleinen Hoffnungsschimmer auf das Leben danach zu entfachen. So stirbt er durch seine eigene Hand unerlöst und verschwindet ins Nichts, in jenes unverheißene Land, das eine durch und durch existentielle Gestalt logischerweise nach dem Tod erwartet. Eine Gestalt, die sich ihrer Taten zwar bewusst ist, am Ende ihre Schuld dennoch nicht mehr zu tragen imstande ist.

Die psychologische Zeichnung von Franz ist Gernot Plass in seiner Inszenierung – wie auch die der anderen Figuren – ausgezeichnet gelungen. Loidl, der zu Beginn noch mit bravem Mittelscheitel und Strickpullunder um die Vaterliebe winselt, entwickelt sich im Laufe des Abends zum herrischen, menschenverachtenden Despoten im dunkelblauen Samtjackett der vor keiner Gewalt zurückschreckt, um die Herrschaft auf seinem Gut aufrechtzuerhalten. Dabei erinnert er an den ein oder anderen Seelenkrüppel aus dem oberen Management, der den Output von Softskillseminaren als Scheiße abtut und Befriedigung nur aus der Machtausübung seinen Untergebenen gegenüber zieht. Und auch Karl, grandios in all seinen Facetten von Gottfried Neuner nachgezeichnet, wird als Charakter verständlich vorgeführt. Seine Studien in Leipzig, deren gedankliche Schlussfolgerungen in einem furiosen Monolog deutlich werden, haben ihn von seiner Familie zwar entfernt, die Liebe zu ihr jedoch keineswegs erkalten lassen. Konsum- und Kulturkritik, Verachtung gegenüber dem Stumpfsinn und der Blödheit der Masse schleudert er so atemlos ins Publikum, dass man das tragische Ende schon vorgezogen fühlen kann. Das Unglück ereilt ihn – genauso wie seinen Bruder – jedoch aus einem persönlichen Charaktermangel. Franz und Karl sind sich zumindest da ähnlich, wo es um die Zurückweisung ihrer Person geht, um den vermeintlichen Liebesentzug des Vaters. Er trifft sie so hart, dass dieser zum Movens ihrer ruchlosen Taten wird, die der eine bewusst, der andere mehr getrieben zu verantworten haben werden.

Die Räuber, deren Spiritus rector eigentlich Spiegelberg ist, werden bei Plass als dümmliche und geile Idioten dargestellt, die ohne ihren charismatischen Führer Karl die Hosen geschissen voll haben, wie sie sich gegenseitig beteuern. Sie erkennen die geistige Leistung von Spiegelberg nicht an. Jens Claßen zeichnet scharfsinnig jenen skrupellosen Mastermind nach, der ihnen vorschlägt, in den Untergrund zu gehen und als „externe Oppositionelle“ so seine Umschreibung von Terroristen, tätig zu werden. Die Bande verlangt jedoch nach einem anderen starken Mann als Anführer, den sie nur in Karl zu sehen glauben. Über weite Strecken dürfen ihre Mitglieder lautstark tief im verbalen Fäkalmüll wühlen und sich dabei gleichzeitig Stärke und Mut suggerieren. Ihre oft gebrüllte Parole „Was sagt der Wichser? Aus den Augen blöde Sau“ leiten sie zwar von Diogenes ab, ohne dass jedoch klar wird, dass dieser allein mit diesen Worten seinem Kaiser und Schüler Alexander die Überlegenheit seines Wissens klar zu machen versuchte. Gewalt war dabei keine im Spiel. In „Moorland, eine gottverdammte Terroristenbande“, wie die Überschreibung von Friedrich Schillers Drama im TAG genannt wird, darf diese sich jedoch ungehemmt ausleben. In vielen Textbezügen, angefangen von der Umbenennung Karls in „Carlos“, was auf Ilich Ramírez Sánchez hinweist, der unter seinem Kampfnamen Carlos in den 70er Jahren zahlreiche Terroranschläge verübte, und zahlreichen Hinweisen zur RAF stellt Plass die Verbindung seiner Räuber zu den Terroristen der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts dar. Ihr Handeln rechtfertigen sie mit skandierten Schreien nach „Freiheit“. Dass dies jedoch eine hohle Parole ist, eine Parole, die ihnen die Legitimation zum Töten gibt, war schon von Beginn an klar.

Michaela Kaspar gelingt es, Amalia jene Persönlichkeit zu verleihen, die von einer sittsamen Geliebten eine Verwandlung zur unerschrockenen, ja kampfbereiten jungen Frau erlebt. Wie Lara Croft bietet sie in Kampfpose den Avancen von Franz Paroli – solange er noch nicht die Macht übernommen hat. Dann jedoch beugt sie sich seinen Drohungen er würde sie im Keller dahinvegetieren lassen und mimt jenes Geschöpf, das bis zum Schluss aufgrund erlebter Gewalt tief von Angst besessen ist. Die gewollten Assoziationen zu den Kellerverbrechen der jüngsten Vergangenheit wirken, denn sie erinnern, dass diese brutale Unterdrückung auch in unserem Land nicht nur in der Vergangenheit zu suchen ist.

Georg Schubert und Maya Henselk beweisen in permanentem Rollentausch nicht nur schauspielerisches Können, sondern verleihen den Mehrfachbesetzungen jeweils ein eigenes Profil, sodass die Inszenierung eine durchgehende und nachvollziehbare Stringenz erhält. Und dies trotz geringstem Kostümwechsel. Überraschend wirken die am laufenden Band produzierten Kalauer, die von zotigen Sprüchen hin zu tiefgründigen Lebensweisheiten mutieren können. Sie bescheren dem Abend Würze, doch es stellt sich die Frage, ob Plass hier nicht die Schreibpferde durchgegangen sind. All der herrlich leicht konsumierbare Klamauk, wie der Dialog zwischen Diener und unerkannt bleiben wollendem Karl, in dem dieser zum wiederholten Mal auf die Anrede „Chef“ hereinfällt und sich so selbst demaskiert, deckt mit Bravour und auch auf Dauer die konfliktreiche Handlung zu. Übrig bleiben neben zahlreichen Lachnummern Mord und Totschlag wie in einem Fernsehkrimi, in dem zum Schluss jeder gegen jeden schießt. Zwar hält sich der Autor den ganzen Abend über strikt an Schillers Erzählstrang, die rasche Szenenabfolge mit den marginalen Umbauten – Sessel werden neu gruppiert und zwei mit schwarzen Stoffbahnen bezogene Wände werden rasch umgestellt – tut jedoch ein Übriges, um das vom Fernsehen her Tempo gewohnte Publikum nicht zu langweilen.

In der Neuinterpretation bleibt dennoch vieles Schiller-treu. Die Frage, warum Menschen zu mordenden Bestien werden, wird auch durch terroristische Vergleiche nicht beantwortet. Ganz im Gegenteil reicht die Kapitalismuskritik von Karl als Motiv genauso wenig, wie das gekränkte Ego von Spiegelberg oder das der beiden Brüder. Sosehr die einzelnen Personen schlüssig erklärt werden, sowenig erhellen sich sozio-kulturelle Umstände. Vielmehr braut sich das Unglück allein aus persönlichen Befindlichkeitsstörungen zu einem Lebenstsunami zusammen, der wiederum keinen der ProtagonistInnen ungestraft zurücklässt. Was bleibt, liegt im Auge der Betrachter und offeriert die ganze Bandbreite zwischen unterhaltsam und tiefgründig. Die Fragen, die offen bleiben, dürften sich nicht wirklich viele stellen, weisen Gernot Plass allerdings hier als einen Postmodernen par excellence aus, der sich weigert, große Erzählungen zu formulieren, da es sie – angeblich – nicht mehr gibt.

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