Unter dem Generalthema “Ein außergewöhnlicher Tag in Selestat” war das Festival nouvelles zu Gast im FRAC
CIE Somebody (c) Jean-Philippe Senn
Teil 2
Der junge Mann am Bass hat´s drauf. Er gibt einen harten, stringenten Beat vor, nach dem die drei Tänzer – zwei Männer und eine Frau unbeschwert – im wahrsten Sinn des Wortes – den großen Raum „erobern“. Der große Raum ist ein Ausstellungsraum des FRAC, viele Meter lang und auch viele Meter hoch. Raum erobern heißt in diesem Fall, wiederum im wahrsten Sinn des Wortes, ihn nicht nur tänzerisch der Länge und Breite nach zu durchmessen. Raum erobern heißt auch, zur Überraschung des Publikums, einen Ständer der offenen Stahlkonstruktion behände nach oben zu klettern um von dort, angekommen an der Außenfront, die ganz aus Glas besteht, in vielen Metern Höhe wie eine Skulptur stehen zu bleiben und nach außen zu blicken. Den Zusehern bleibt kurz der Atem stehen. Die beiden am Boden Verbliebenen blicken nach oben, tanzen weiter und nehmen den Artisten, der kurz zuvor noch in schwindelnden Höhen wie ein übermütiger Affe an der Stahlkonstruktion baumelte, anschließend wieder wie selbstverständlich in ihre Formation auf. Der Bassist wechselt zur E-Gitarre, einer der Tänzer produziert sich als Sänger, während alles ständig in Fluss bleibt, während die Tanzenden sich leiten lassen von den Improvisationen, zusammenfinden, wieder auseinanderdriften. Nachdem die Musik für kurze Zeit verstummt ist, geht der Tanz unvermindert weiter. Die Tänzer vereinigen sich abermals, reagieren auf ihre gegenseitigen Gesten und ihre Körpersprache und haben – und das macht die Besonderheit dieser Tanzperformance aus – offenkundig große Freude an ihrem Tun. Ihre Gesichter lachen während ihrer Begegnungen, bleiben entspannt, auch in anstrengenden Schritt- und Bewegungsfolgen, so, als sei dieser Ausdruck für sie so natürlich wie das Sitzen oder Gehen. Die rockige, trashige Musik, die Vincent Posty der Aktion unterlegt, bietet den Akteuren einen Grundraster an. Einen Teppich, dessen Farben sie kennen, dessen Formen sie aber je nach Eingebung immer neu erfinden können. „Crash Roar Din“ von CIE Somebody erhält gerade im musealen Umfeld noch eine weitere Dimension. Die Körper im Raum, nicht auf der Bühne, teilweise ganz nah am Publikum, lassen gänzlich neue Erfahrungen zu. In jenen Sequenzen, in denen die Tänzerin und die Tänzer ihre Bewegungen kurz einfrieren, mutieren sie zu Skulpturen, in der Kletteraktion zu Akrobaten, durch den Gesang zu Sängern. Marjorie Burger-Chassignet, Sébastien Dupré und Galaad Le Goaster halten die Zeit an. Mit ihren Bewegungen, ihren offenkundigen Selbstreflexionen aber auch Reaktionen auf die anderen gelingt ihnen in dieser Performance, das Publikum ganz für sich einzunehmen. Es für eine halbe Stunde mitzunehmen in ihre eigene Welt, die Gedanken nicht manipuliert, sondern vielmehr, wie ihre Choreografie, fließen lässt. Immer neu, immer anders, immer selbstbestimmt und immer freundlich. So könnte man sich das ideale Leben vorstellen.
Guillaume Desanges (c) Frac Lorraine
Mit Guillaume Desanges und seiner „Geschichte der Performance in 20 Minuten“ schloss der Reigen der Kunstaktionen im FRAC in Selestat anlässlich des „festival nouvelles“. Desanges, der mit Frédéric Cherboeuf einen genialen Partner fand, erklärte in einer Lesung, dass sich die Geschichte der Performance in 10 Gesten einteilen lässt. Der Kunstkritiker und Ausstellungskurator schlüpfte bei dieser Aktion selbst in die Rolle des Akteurs – wenngleich auch nur des Lesers. Cherboeuf hingegen setzte das in Körpersprache um, wovon Desanges jeweils ein Bild zu geben versuchte. Ganz im Sinne der Postmoderne schickte er voraus, dass es nichts mehr gibt, was nicht schon gesagt oder gezeigt worden wäre und dennoch gelingt es ihm, diesem „alles schon Dagewesenem“ eine neue Dimension hinzuzufügen. Dabei geht es Schlag auf Schlag. Aktionen von Bruce Nauman, Niki de St.Phalle, Vito Acconci und vielen anderen, bis hin zu den Wiener Aktionisten mit Otto Mühl und Günther Brus lässt Desanges mit der körperlichen Umsetzung durch Gesten und Aktionen wie „gegen die Wand springen“ oder „sich über den Lesetisch legen“ illustrieren. Niki de St. Phalles Farbschießaktion wird in der Bewegung eingefroren, die man beim Abzug einer Flinte einnimmt, Otto Mühls Fäkalaktionen hingegen wurden durch jenes Hocken gekennzeichnet, das der Künstler ehemals vor der Kamera einnahm, die die Verrichtung seiner Notdurft festhielt. Guillaume Desanges Beitrag entspricht voll und ganz dem Zeitgeist, der sich in der Aufarbeitung der Vergangenheit mit neuen kreativen Mitteln ausdrückt.
Wie schon Prinz Gholam oder Nicolas Boulard zuvor, zeigte er, dass es auch in dieser Phase der Kunstgeschichtsproduktion, um es ganz lapidar darzustellen, Momente und Ansätze gibt, in welchen die Künstler nicht in reine Eklektizismen verfallen, sondern dass mit ihnen ganz bewusst umgegangen wird und sie dadurch sehr wohl mit neuen, kreativen Ideen aufgeladen werden können. Die Künstler waren bei diesen Aktionen alle imstande, trotz des hohen, intellektuellen Niveaus, auf dem sich diese Kunstproduktionen bewegten, das Publikum anzusprechen. Und dazu trägt maßgeblich die ironische Komponente bei, die allen drei Kunstproduktionen– wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – inne wohnten.
Ein gelungener Nachmittag mit wohl überlegten und gut aufeinander abgestimmten Aktionen der Appetit machte auf mehr zeitgenössische Kunst.
Fast hätte ich´s vergessen: was das „Bring“ anlangte – bei dem alle Teilnehmer etwas zu essen mitbrachten, das dann zu einem Buffet aufgebaut wurde – das war der volle Erfolg und kann getrost weiter empfohlen werden; gerade in Zeiten von allgemeinen kulturellen Sparmaßnahmen!