Setzen Sie sich, Frau L. - schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Sie ahnen ja ohnehin, weshalb ich Sie eingeladen habe - Anhörung stand ja auch im Einladungsschreiben. Aber zunächst setzen Sie sich doch... zur Sache also: Frau L., Sie sind nun neunundsiebzig Jahre alt, entnehme ich meinen Unterlagen. Ein schönes Alter, will ich meinen. In so eine Zeitspanne läßt sich ein vollwertiges, befriedigendes Leben packen; in acht Dekaden hat man wahrscheinlich schon alles erlebt, was es so zu erleben gibt. Gut in Schuss sind Sie auch, steht hier - stimmt das? Möchten Sie mir nicht mitteilen, wie es um Ihren Gesundheitszustand bestellt ist?
Frau L., ich verstehe Ihre Skepsis im Hinblick auf Ihre Krankenakte durchaus - nur: Sie sind dazu verpflichtet zu kooperieren. Laut Optimierungsgesetz zur Gewährleistung eines effektiven Rentensystems sind Sie dazu angehalten, bei jeglicher behördlicher Überprüfung die anfallenden Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten - und fürchten müssen Sie sich nicht, wir reden hier doch nur, sonst geschieht gar nichts. Natürlich weiß ich von den Horrorgeschichten, die auf den Straßen kursieren - aber seien Sie ganz unbeschwert: nichts davon ist wahr, wir schläfern hier keine Senioren ein. Ich bitte Sie! Wir sind doch kultivierte Leute! Also, wie geht es Ihnen denn derzeit, Frau L.?... na, das hört man doch gerne, dass es Menschen auch im hohen Alter noch gut gehen kann - das macht der vom Alter sich fürchtenden Jugend doch Hoffnung. Sie sehen ja auch gut aus, wie das blühende Leben, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.
Gut, ich notiere demnach: keine Krankheiten, keine besonderen Gebrechen. Auch keine Herzschwäche beispielsweise? Diabetes? Nein? Ist notiert! Sie beziehen nun ja bereits seit knapp zwölf Jahren Rente - Grundrente, genauer gesagt. Sofern Ihre Angaben stimmen - (wir lassen Ihren Zustand auf alle Fälle bei einem gesonderten Termin nochmals ärztlich überprüfen!) -, entsteht für die Rentenkasse ein Problem, ein Engpass sozusagen. Wir haben als Behörde die gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen, die ohnehin knappen Ressourcen der Rentenkasse fair und gleichberechtigt zu verteilen. Die Mittel effektiv auf alle anspruchsberechtigten Schultern zu verteilen, glauben Sie mir: das ist ein schwieriges und undankbares Geschäft - gerade dann, wenn jemand mit solch rosigem Teint und einer derart leeren, mich fast schon deprimierenden Krankenakte vor mich tritt. Wo soll ich denn da ansetzen? Ist jemand schwer krank, dann ist es ein Kinderspiel, denn die Zeit übernimmt dann meine Aufgabe und enthebt mich der Verpflichtung, mich um eine effektive und faire Rentengelderverteilung zu bemühen. Dann warte ich geduldig ab bis der Rentennehmer diese Welt verlässt und muß nicht nachdrücklich auf den Rentner einwirken, so wie es das Gesetz nach Paragraph X vorschreibt.
Tja, Frau L., wenn Sie jetzt krank wären, könnten wir uns bereits jetzt einen schönen Tag wünschen - genießen Sie Ihre restliche Zeit!, würde ich Ihnen mit auf den Weg geben. Sie sind aber gesund, ganz besonders gesund offenbar: damit gehen wir beide in die Verlängerung. Vorab aber noch als Information, die ich Ihnen von Gesetzes wegen mitteilen muß: niemand drängt Sie, niemand quengelt, niemand macht Druck, auch wenn Sie das subjektiv so wahrnehmen könnten - und vorallem: niemand will Sie beseitigen! Wir unterhalten uns nur - das ist nur eine Anhörung, Frau L.; Sie hören mich nur an! Ich hoffe sehr, dass Ihnen das klar ist. Sehen Sie, es gibt Stimmen, die halten kranke Rentner für besonders soziale Wesen - dass der Mensch sozial veranlagt sei, behaupten diese Stimmen gerne, verspüre man besonders daran, dass viele Senioren vorsorglich erkranken und die Sozialkassen entlasten. Wissen Sie, ich würde so etwas nie behaupten; aber ganz von der Hand kann man diese Logik ja nicht weisen. Denn ich kann ja wirklich bestätigen, wie sozial verträglich kranke Alte doch sind - sie tun uns gut, geben knappe Rentenmittel frei, lassen unsere Behörde effektiv arbeiten.
Selbstredend, dass dieselben Stimmen natürlich auch von den anderen, von den gesunden Exemplaren etwas halten: nur leider nichts Gutes. Der kranke Rentner ist bei denen also ein guter Mensch, ein soziales Wesen - aber der gesunde Alte, der seinen Lebensabend künstlich verlängert, sich in die soziale Hängematte verkrallt, den verachten sie. Daran erkenne man, dass dieser Mensch sein ganzes Leben lang schlecht gewesen sei, ein Asozialer, ein Egoist, selbstsüchtig bis in die Senilität hinein. Frau L., auch da stimme ich nicht mit ein; das sind unmenschliche Äußerungen, wissenschaftlich nicht abgeklärt und ohne Beweiskraft - aber natürlich haben Sie einen ethischen Wert, auch wenn sie nicht verifizierbar sind. Und diesen Wert erkenne ich natürlich an, auch weil meine tägliche Büroerfahrung mir immer wieder bestätigt, dass ein Fünkchen Wahrheit in solchen Aussagen steckt. Deswegen verachte ich den ans Leben verhaftete Senioren nicht persönlich - er kann nichts für seinen egoistischen Impuls, ist vielleicht fehlerhaft von der Natur programmiert, falsch erzogen oder leidet unter einer psychischen Erkrankung, kurz gesagt: ist also unschuldig und daher moralisch freizusprechen. Nur darf dieses mitfühlende Verständnis nicht dazu führen, die wirklichen Umstände auf sich beruhen zu lassen. Mitfühlen heißt nicht tolerieren! Als zivilisierter Mensch sollte man wissen, wo man mitfühlen muß - aber ebenso zivilisiert ist es, sich von dieser emotionalen Regung nicht zu sehr vereinnahmen zu lassen.
Nur eine Anhörung, Frau L. - vergessen Sie das nicht! Hören Sie mich an, wie ich meine Gedanken schweifen lasse - mehr könnte ohnehin nicht geschehen, unser verehrtes Grundgesetz, bald ein Säkulum alt, ließe eh nicht mehr zu als bloße, verhallende Worte. Fürchten Sie sich also nicht, denn es fallen nur Worte, geschehen keine Taten. Und sehen Sie, ich bin nun von Gesetzes wegen dazu gezwungen, Sie nachdrücklich und im Sinne des effektiven Rentensystems zu fragen, wie lange Sie noch zu leben gedenken. Neunundsiebzig Jahre haben Sie erlebt - ein schönes, ein biblisches Alter. Älter sollte man sowieso nicht werden, denn dann stellen sich nur Zipperlein und handfeste Leiden ein. Was man mit neunundsiebzig Jahren noch nicht erlebt hat, erlebt man nimmermehr - außer natürlich Alterskrankheiten, die man nicht erleben möchte, nicht erleben sollte und auch nicht erleben muß, wenn man nicht will. Ab einem gewissen Lebensalter sollte man nicht mehr nach vorne schauen, man sollte Rückschau halten und zufrieden werden; sich des Erreichten erfreuen, nicht voll Freude hoffen, dass es zu noch mehr reicht. Neunundsiebzig! Und dann noch gesund! Doch man weiß, ab da kommen nur noch Krankheit, Hilflosigkeit, Demenz. Schön wäre es, gesund sterben zu können - finden Sie nicht?
Aber Frau L., ich plausche doch nur, ich fordere Sie doch nicht auf, sich das Leben zu nehmen. Wohin denken Sie denn? Wir sind doch hier alles wohlerzogene Menschen, kultiviert von Kindesbeinen an. Wir hängen nur gemeinsam meinen Gedanken nach, ganz unverbindlich und offiziös. Die Würde des Menschen, Sie wissen doch, diese etwas antiquierte und pathoslastige Vorstellung - sie gilt stets und überall, auch bei uns hier. Nein, ich denke nur laut nach und - ich gebe es ja zu, Frau L. - versuche Sie zum Nachdenken zu bringen. Sie hatten doch bestimmt ein erfülltes Leben, nehme ich an - eines das, sollte es heute plötzlich enden, nicht als vergeudete Existenz bezeichnet werden müsste. Natürlich verstehe ich: Sie haben viel gearbeitet in Ihrem Leben, vielleicht zu viel, haben viele Entbehrungen ertragen müssen - und das tut mir als Mensch leid für Sie. Und freilich begreifen ich, dass Sie nun, da Sie ein wenig zu Zufriedenheit und Ruhe gekommen sind, dieses Leben genießen wollen, solange es nur irgendwie geht. Oh doch, Frau L., ich verstehe nur zu gut! Die Frage ist nur: ist "solange es nur irgendwie geht" fair? Ist es solidarisch? Sozial akzeptabel? Dabei könnte ich mir vorstellen, würde Ihr Leben heute enden, Sie wären von viel Leid erlöst; Leid, welches sich aus Ihrem Lebensabend bestimmt nicht gänzlich verflüchtigt hatte, sondern sich nur versteckt hielt - möglicherweise solange, bis es sich zum finalen, herzzerreißenden Schlag antigerte. Bedenken Sie doch nur, was da noch alles kommen könnte! Metastasen und Krebsschmerzen, Lähmungen oder Demenz warten da vielleicht auf Sie. Haben Sie schon mal die Schmerzensschreie eines Verkrebsten erlebt? Falls nicht, unsere Behörde bietet Abschreckungsseminare an - machbar, dass wir Sie mal zu so einem Seminar schicken...
Wäre es da nicht viel vernünftiger, das Leben endete augenblicklich dann, wenn das Unglück auf seine Chance lauert, zum Angriff ansetzt? Auf der Schwelle zur Krankheit sterben - das wäre doch human. Das ist indes auch der Irrtum der aktiven Sterbehilfe, die wir in dieser Gesellschaft genau aus diesem Grunde verboten belassen. Denn wenn man Totkranken zum Tode verhilft, dann erlöst man sie nur vom Elend; der Kranke tritt dann relativ deprimiert, ausgezehrt, verbraucht aus dem Leben - und er tritt uneffektiv ins Nichts, weil er ohnehin gestorben wäre. Er ermöglicht damit der Gesellschaft keinen Gewinn, denn abgetreten wäre er sowieso. Jemanden human sterben lassen bedeutet aber, ihn in blendender Verfassung dem Tod zu übergeben, sodass er eine Freude hat am Hinübergehen, dass er davon etwas mitbekommt, sich bewusst verabschieden kann - und es bedeutet auch, human zur Gesellschaft sein, weil man sie von einem Esser befreit hat. Human sterben heißt, wenn es am schönsten ist abzutreten - subjektiv betrachtet. Human sterben heißt objektiv besehen: einem noch lange währenden Leben ein Ende setzen.
Aber nein, Frau L., ich versuche Sie zu nichts zu bewegen. Ich dränge Sie mitnichten! Das dürfte ich auch gar nicht - im Gesetz steht lediglich, dass der Mitarbeiter der Rentenversicherung den Rentenbezieher über die Sachlage aufzuklären hat. Was dabei Sachlage ist, ist nicht genauer definiert. Aber zum Freitod überreden oder dergleichen - also Frau L., Sie haben ja eine lebhafte, eine makabere Phantasie! Vielmehr ist es doch so, dass ich Ihnen meine Gedanken laut mitteile - Konsequenzen teile ich Ihnen aber nicht mit. Schlüsse müssten Sie schon selbst ziehen, wenn Sie welche ziehen wollten - das kann Ihnen niemand abnehmen. Wie wir indes jeden eine Rente zuteilen könnten, wenn alle so gesund, so stur und erdverwachsen wären wie Sie, vermag ich, vermag die Gesellschaft allerdings nicht zu beantworten. Auch wenn vielen so eine langlebige Sturheit stinkt, Ihr Leben nehmen wir Ihnen nicht weg, nicht mal Ihre Rente wird einbehalten solange Sie leben. Aber viel gesellschaftliches Wohlwollen dürfen Sie natürlich nicht mehr erwarten. Der Preis für ein langes Leben ist die Verachtung - wir als Behörde unterstützen die niederen Instinkte des Stammtisches nicht; wir können ihnen aber auch nicht entgegentreten. Was wir jedoch können: diejenigen, die mit Verachtung zu rechnen haben, schon vorher warnen und ihnen Gedanken mitteilen, wie sie dieser Drohung entrinnen können. Sehen Sie meine Auslassungen also als Ratschlag.
Und ich betone abermals, auch weil ich es gesetzlich muß: niemand will Sie tot sehen! Wir leben schließlich in einer freien Gesellschaft, in einer Demokratie - und das schon seit beinahe durchgehend einem Jahrhundert. Die Gerüchte von der Straße, in denen es heißt, wir hätten eine Sterbehilfeabteilung, die sind Humbug, phantastische Märchen. Nein, niemand möchte Sie tot sehen - aber wenn Sie sich selbst tot sehen wollten, einfach weil Sie zum Entschluss gekommen wären, dass Sie nun lange genug das Brot anderer Menschen verspeist haben, dann stünde Ihnen das Gemeinwesen nicht im Wege, dann würden Sie auch tatkräftige Hilfe erhalten. Keine Hilfe aus Sterbeabteilungen, die es in unserem Hause gar nicht gibt - privatwirtschaftliche Hilfe: durch das bereits erwähnte Optimierungsgesetz zur Gewährleistung eines effektiven Rentensystems waren alle Pflegedienste dazu verpflichtet, einen Sterbedienst einzurichten, die allerdings verdeckt zu halten seien, nur auf Nachfrage offenbart werden dürfen. Auf Antrag wäre unsere Behörde dazu verpflichtet, Ihnen einen solchen Heimgehungsdienst, wie er amtssprachlich genannt wird, zu bezahlen - das heißt, wenn Sie sich freiwillig dazu entscheiden würden, einen solchen Dienst in Anspruch zu nehmen. Was Sie ohnehin auf dem Antrag ankreuzen müssten, dort wo es heißt "Haben Sie sich freiwillig dazu entschlossen, einen solidarischen Heimgehungsdienst zu kontaktieren?" Alles freiwillig, Frau L., denn wir leben in einer Gesellschaft der Freiwilligkeit - und Freiwilligen helfen wir nur gerne. Der moderne Sozialstaat belohnt den guten Willen seiner Kinder.
Nein, Frau L., niemand nötigt Sie - aber Sie sollten über Ihre Rechte informiert sein. Und es wäre Ihr gutes Recht, einen Sterbebegleiter in Anspruch zu nehmen. Er würde Sie kein Geld kosten. Sie würden von ihm eine Spritze bekommen, langsam eindösen, bei erhabener Musik, jedoch in Abwesenheit Ihrer Familie, um die Tarnung der Sterbedienste zu gewährleisten. Glauben Sie aber nur nicht, es handelte sich dabei um aktive Sterbehilfe - passive Begleitung ist das, denn der Sterbebegleiter ist keine Sterbehilfe, er begleitet nur und setzt die Spritze, die Sie ja mittels Ihres freien Willens beantragt haben - die damit nicht er intramuskulär injiziert, sondern Ihr freier Wille. Der Sozialstaat soll zwar aktivieren, liebe Frau L., aber aktive Sterbehilfe leistet er nicht - wer den Staat um die Milde des Todes bittet, der wird von ihm begleitet, der bekommt übrigens auch die Beerdigung anteilig bezahlt. Der Antrag hierzu findet sich im Antrag für Inanspruchnahme eines privaten Heimgehungsdienstes.
Das war es auch schon für heute. Ich werde Sie kommende Woche erneut einladen, eine erneute Anhöhrung wird dann fällig sein. Das Gesetz zwingt mich dazu, Sie nun regelmäßig vorstellig werden zu lassen - bei Krankheit bitte ich Sie, mir umgehend eine Bettlägrigkeitsbescheinigung zukommen zu lassen. Gleichwohl muß ich Sie darauf hinweisen, von der Existenz sogenannter Sterbedienste Stillschweigen zu bewahren. Auch dazu sind Sie im Rahmen des Kooperationsparagraphen verpflichtet. Sollten Sie dem zuwiderhandeln, so muß ich laut Paragraph X einen Verwaltungsakt einleiten, in dem ich für Sie einen Antrag zur Inanspruchnahme eines privaten Heimgehungsdienstes einreiche, der außerdem mit einem Eilt!-Stempel versehen wird. Der Abschnitt, der die Freiwilligkeit Ihrer Entscheidung behandelt, entfällt bei einem solchen Verwaltungsakt, weil Sie zeitgleich für unzurechnungsfähig erklärt werden und umgehend einen Vormund erhalten, der von der Rentenbehörde gestellt wird. Dieser wiederum unterliegt zwar seinem Gewissen - aber sein Gewissen ist dazu gesetzlich angehalten für effektive und faire Rentengelderverteilung zu stimmen.
Frau L., wir sind keine Barbaren, auch wenn man uns im Volk nicht sehr schätzt. Mit uns kann man reden, wir sind freundlich - und wir widmen uns kompetent jedes Einzelfalles. In diesem Sinne, Frau L., bis nächste Woche...
Frau L., ich verstehe Ihre Skepsis im Hinblick auf Ihre Krankenakte durchaus - nur: Sie sind dazu verpflichtet zu kooperieren. Laut Optimierungsgesetz zur Gewährleistung eines effektiven Rentensystems sind Sie dazu angehalten, bei jeglicher behördlicher Überprüfung die anfallenden Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten - und fürchten müssen Sie sich nicht, wir reden hier doch nur, sonst geschieht gar nichts. Natürlich weiß ich von den Horrorgeschichten, die auf den Straßen kursieren - aber seien Sie ganz unbeschwert: nichts davon ist wahr, wir schläfern hier keine Senioren ein. Ich bitte Sie! Wir sind doch kultivierte Leute! Also, wie geht es Ihnen denn derzeit, Frau L.?... na, das hört man doch gerne, dass es Menschen auch im hohen Alter noch gut gehen kann - das macht der vom Alter sich fürchtenden Jugend doch Hoffnung. Sie sehen ja auch gut aus, wie das blühende Leben, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.
Gut, ich notiere demnach: keine Krankheiten, keine besonderen Gebrechen. Auch keine Herzschwäche beispielsweise? Diabetes? Nein? Ist notiert! Sie beziehen nun ja bereits seit knapp zwölf Jahren Rente - Grundrente, genauer gesagt. Sofern Ihre Angaben stimmen - (wir lassen Ihren Zustand auf alle Fälle bei einem gesonderten Termin nochmals ärztlich überprüfen!) -, entsteht für die Rentenkasse ein Problem, ein Engpass sozusagen. Wir haben als Behörde die gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen, die ohnehin knappen Ressourcen der Rentenkasse fair und gleichberechtigt zu verteilen. Die Mittel effektiv auf alle anspruchsberechtigten Schultern zu verteilen, glauben Sie mir: das ist ein schwieriges und undankbares Geschäft - gerade dann, wenn jemand mit solch rosigem Teint und einer derart leeren, mich fast schon deprimierenden Krankenakte vor mich tritt. Wo soll ich denn da ansetzen? Ist jemand schwer krank, dann ist es ein Kinderspiel, denn die Zeit übernimmt dann meine Aufgabe und enthebt mich der Verpflichtung, mich um eine effektive und faire Rentengelderverteilung zu bemühen. Dann warte ich geduldig ab bis der Rentennehmer diese Welt verlässt und muß nicht nachdrücklich auf den Rentner einwirken, so wie es das Gesetz nach Paragraph X vorschreibt.
Tja, Frau L., wenn Sie jetzt krank wären, könnten wir uns bereits jetzt einen schönen Tag wünschen - genießen Sie Ihre restliche Zeit!, würde ich Ihnen mit auf den Weg geben. Sie sind aber gesund, ganz besonders gesund offenbar: damit gehen wir beide in die Verlängerung. Vorab aber noch als Information, die ich Ihnen von Gesetzes wegen mitteilen muß: niemand drängt Sie, niemand quengelt, niemand macht Druck, auch wenn Sie das subjektiv so wahrnehmen könnten - und vorallem: niemand will Sie beseitigen! Wir unterhalten uns nur - das ist nur eine Anhörung, Frau L.; Sie hören mich nur an! Ich hoffe sehr, dass Ihnen das klar ist. Sehen Sie, es gibt Stimmen, die halten kranke Rentner für besonders soziale Wesen - dass der Mensch sozial veranlagt sei, behaupten diese Stimmen gerne, verspüre man besonders daran, dass viele Senioren vorsorglich erkranken und die Sozialkassen entlasten. Wissen Sie, ich würde so etwas nie behaupten; aber ganz von der Hand kann man diese Logik ja nicht weisen. Denn ich kann ja wirklich bestätigen, wie sozial verträglich kranke Alte doch sind - sie tun uns gut, geben knappe Rentenmittel frei, lassen unsere Behörde effektiv arbeiten.
Selbstredend, dass dieselben Stimmen natürlich auch von den anderen, von den gesunden Exemplaren etwas halten: nur leider nichts Gutes. Der kranke Rentner ist bei denen also ein guter Mensch, ein soziales Wesen - aber der gesunde Alte, der seinen Lebensabend künstlich verlängert, sich in die soziale Hängematte verkrallt, den verachten sie. Daran erkenne man, dass dieser Mensch sein ganzes Leben lang schlecht gewesen sei, ein Asozialer, ein Egoist, selbstsüchtig bis in die Senilität hinein. Frau L., auch da stimme ich nicht mit ein; das sind unmenschliche Äußerungen, wissenschaftlich nicht abgeklärt und ohne Beweiskraft - aber natürlich haben Sie einen ethischen Wert, auch wenn sie nicht verifizierbar sind. Und diesen Wert erkenne ich natürlich an, auch weil meine tägliche Büroerfahrung mir immer wieder bestätigt, dass ein Fünkchen Wahrheit in solchen Aussagen steckt. Deswegen verachte ich den ans Leben verhaftete Senioren nicht persönlich - er kann nichts für seinen egoistischen Impuls, ist vielleicht fehlerhaft von der Natur programmiert, falsch erzogen oder leidet unter einer psychischen Erkrankung, kurz gesagt: ist also unschuldig und daher moralisch freizusprechen. Nur darf dieses mitfühlende Verständnis nicht dazu führen, die wirklichen Umstände auf sich beruhen zu lassen. Mitfühlen heißt nicht tolerieren! Als zivilisierter Mensch sollte man wissen, wo man mitfühlen muß - aber ebenso zivilisiert ist es, sich von dieser emotionalen Regung nicht zu sehr vereinnahmen zu lassen.
Nur eine Anhörung, Frau L. - vergessen Sie das nicht! Hören Sie mich an, wie ich meine Gedanken schweifen lasse - mehr könnte ohnehin nicht geschehen, unser verehrtes Grundgesetz, bald ein Säkulum alt, ließe eh nicht mehr zu als bloße, verhallende Worte. Fürchten Sie sich also nicht, denn es fallen nur Worte, geschehen keine Taten. Und sehen Sie, ich bin nun von Gesetzes wegen dazu gezwungen, Sie nachdrücklich und im Sinne des effektiven Rentensystems zu fragen, wie lange Sie noch zu leben gedenken. Neunundsiebzig Jahre haben Sie erlebt - ein schönes, ein biblisches Alter. Älter sollte man sowieso nicht werden, denn dann stellen sich nur Zipperlein und handfeste Leiden ein. Was man mit neunundsiebzig Jahren noch nicht erlebt hat, erlebt man nimmermehr - außer natürlich Alterskrankheiten, die man nicht erleben möchte, nicht erleben sollte und auch nicht erleben muß, wenn man nicht will. Ab einem gewissen Lebensalter sollte man nicht mehr nach vorne schauen, man sollte Rückschau halten und zufrieden werden; sich des Erreichten erfreuen, nicht voll Freude hoffen, dass es zu noch mehr reicht. Neunundsiebzig! Und dann noch gesund! Doch man weiß, ab da kommen nur noch Krankheit, Hilflosigkeit, Demenz. Schön wäre es, gesund sterben zu können - finden Sie nicht?
Aber Frau L., ich plausche doch nur, ich fordere Sie doch nicht auf, sich das Leben zu nehmen. Wohin denken Sie denn? Wir sind doch hier alles wohlerzogene Menschen, kultiviert von Kindesbeinen an. Wir hängen nur gemeinsam meinen Gedanken nach, ganz unverbindlich und offiziös. Die Würde des Menschen, Sie wissen doch, diese etwas antiquierte und pathoslastige Vorstellung - sie gilt stets und überall, auch bei uns hier. Nein, ich denke nur laut nach und - ich gebe es ja zu, Frau L. - versuche Sie zum Nachdenken zu bringen. Sie hatten doch bestimmt ein erfülltes Leben, nehme ich an - eines das, sollte es heute plötzlich enden, nicht als vergeudete Existenz bezeichnet werden müsste. Natürlich verstehe ich: Sie haben viel gearbeitet in Ihrem Leben, vielleicht zu viel, haben viele Entbehrungen ertragen müssen - und das tut mir als Mensch leid für Sie. Und freilich begreifen ich, dass Sie nun, da Sie ein wenig zu Zufriedenheit und Ruhe gekommen sind, dieses Leben genießen wollen, solange es nur irgendwie geht. Oh doch, Frau L., ich verstehe nur zu gut! Die Frage ist nur: ist "solange es nur irgendwie geht" fair? Ist es solidarisch? Sozial akzeptabel? Dabei könnte ich mir vorstellen, würde Ihr Leben heute enden, Sie wären von viel Leid erlöst; Leid, welches sich aus Ihrem Lebensabend bestimmt nicht gänzlich verflüchtigt hatte, sondern sich nur versteckt hielt - möglicherweise solange, bis es sich zum finalen, herzzerreißenden Schlag antigerte. Bedenken Sie doch nur, was da noch alles kommen könnte! Metastasen und Krebsschmerzen, Lähmungen oder Demenz warten da vielleicht auf Sie. Haben Sie schon mal die Schmerzensschreie eines Verkrebsten erlebt? Falls nicht, unsere Behörde bietet Abschreckungsseminare an - machbar, dass wir Sie mal zu so einem Seminar schicken...
Wäre es da nicht viel vernünftiger, das Leben endete augenblicklich dann, wenn das Unglück auf seine Chance lauert, zum Angriff ansetzt? Auf der Schwelle zur Krankheit sterben - das wäre doch human. Das ist indes auch der Irrtum der aktiven Sterbehilfe, die wir in dieser Gesellschaft genau aus diesem Grunde verboten belassen. Denn wenn man Totkranken zum Tode verhilft, dann erlöst man sie nur vom Elend; der Kranke tritt dann relativ deprimiert, ausgezehrt, verbraucht aus dem Leben - und er tritt uneffektiv ins Nichts, weil er ohnehin gestorben wäre. Er ermöglicht damit der Gesellschaft keinen Gewinn, denn abgetreten wäre er sowieso. Jemanden human sterben lassen bedeutet aber, ihn in blendender Verfassung dem Tod zu übergeben, sodass er eine Freude hat am Hinübergehen, dass er davon etwas mitbekommt, sich bewusst verabschieden kann - und es bedeutet auch, human zur Gesellschaft sein, weil man sie von einem Esser befreit hat. Human sterben heißt, wenn es am schönsten ist abzutreten - subjektiv betrachtet. Human sterben heißt objektiv besehen: einem noch lange währenden Leben ein Ende setzen.
Aber nein, Frau L., ich versuche Sie zu nichts zu bewegen. Ich dränge Sie mitnichten! Das dürfte ich auch gar nicht - im Gesetz steht lediglich, dass der Mitarbeiter der Rentenversicherung den Rentenbezieher über die Sachlage aufzuklären hat. Was dabei Sachlage ist, ist nicht genauer definiert. Aber zum Freitod überreden oder dergleichen - also Frau L., Sie haben ja eine lebhafte, eine makabere Phantasie! Vielmehr ist es doch so, dass ich Ihnen meine Gedanken laut mitteile - Konsequenzen teile ich Ihnen aber nicht mit. Schlüsse müssten Sie schon selbst ziehen, wenn Sie welche ziehen wollten - das kann Ihnen niemand abnehmen. Wie wir indes jeden eine Rente zuteilen könnten, wenn alle so gesund, so stur und erdverwachsen wären wie Sie, vermag ich, vermag die Gesellschaft allerdings nicht zu beantworten. Auch wenn vielen so eine langlebige Sturheit stinkt, Ihr Leben nehmen wir Ihnen nicht weg, nicht mal Ihre Rente wird einbehalten solange Sie leben. Aber viel gesellschaftliches Wohlwollen dürfen Sie natürlich nicht mehr erwarten. Der Preis für ein langes Leben ist die Verachtung - wir als Behörde unterstützen die niederen Instinkte des Stammtisches nicht; wir können ihnen aber auch nicht entgegentreten. Was wir jedoch können: diejenigen, die mit Verachtung zu rechnen haben, schon vorher warnen und ihnen Gedanken mitteilen, wie sie dieser Drohung entrinnen können. Sehen Sie meine Auslassungen also als Ratschlag.
Und ich betone abermals, auch weil ich es gesetzlich muß: niemand will Sie tot sehen! Wir leben schließlich in einer freien Gesellschaft, in einer Demokratie - und das schon seit beinahe durchgehend einem Jahrhundert. Die Gerüchte von der Straße, in denen es heißt, wir hätten eine Sterbehilfeabteilung, die sind Humbug, phantastische Märchen. Nein, niemand möchte Sie tot sehen - aber wenn Sie sich selbst tot sehen wollten, einfach weil Sie zum Entschluss gekommen wären, dass Sie nun lange genug das Brot anderer Menschen verspeist haben, dann stünde Ihnen das Gemeinwesen nicht im Wege, dann würden Sie auch tatkräftige Hilfe erhalten. Keine Hilfe aus Sterbeabteilungen, die es in unserem Hause gar nicht gibt - privatwirtschaftliche Hilfe: durch das bereits erwähnte Optimierungsgesetz zur Gewährleistung eines effektiven Rentensystems waren alle Pflegedienste dazu verpflichtet, einen Sterbedienst einzurichten, die allerdings verdeckt zu halten seien, nur auf Nachfrage offenbart werden dürfen. Auf Antrag wäre unsere Behörde dazu verpflichtet, Ihnen einen solchen Heimgehungsdienst, wie er amtssprachlich genannt wird, zu bezahlen - das heißt, wenn Sie sich freiwillig dazu entscheiden würden, einen solchen Dienst in Anspruch zu nehmen. Was Sie ohnehin auf dem Antrag ankreuzen müssten, dort wo es heißt "Haben Sie sich freiwillig dazu entschlossen, einen solidarischen Heimgehungsdienst zu kontaktieren?" Alles freiwillig, Frau L., denn wir leben in einer Gesellschaft der Freiwilligkeit - und Freiwilligen helfen wir nur gerne. Der moderne Sozialstaat belohnt den guten Willen seiner Kinder.
Nein, Frau L., niemand nötigt Sie - aber Sie sollten über Ihre Rechte informiert sein. Und es wäre Ihr gutes Recht, einen Sterbebegleiter in Anspruch zu nehmen. Er würde Sie kein Geld kosten. Sie würden von ihm eine Spritze bekommen, langsam eindösen, bei erhabener Musik, jedoch in Abwesenheit Ihrer Familie, um die Tarnung der Sterbedienste zu gewährleisten. Glauben Sie aber nur nicht, es handelte sich dabei um aktive Sterbehilfe - passive Begleitung ist das, denn der Sterbebegleiter ist keine Sterbehilfe, er begleitet nur und setzt die Spritze, die Sie ja mittels Ihres freien Willens beantragt haben - die damit nicht er intramuskulär injiziert, sondern Ihr freier Wille. Der Sozialstaat soll zwar aktivieren, liebe Frau L., aber aktive Sterbehilfe leistet er nicht - wer den Staat um die Milde des Todes bittet, der wird von ihm begleitet, der bekommt übrigens auch die Beerdigung anteilig bezahlt. Der Antrag hierzu findet sich im Antrag für Inanspruchnahme eines privaten Heimgehungsdienstes.
Das war es auch schon für heute. Ich werde Sie kommende Woche erneut einladen, eine erneute Anhöhrung wird dann fällig sein. Das Gesetz zwingt mich dazu, Sie nun regelmäßig vorstellig werden zu lassen - bei Krankheit bitte ich Sie, mir umgehend eine Bettlägrigkeitsbescheinigung zukommen zu lassen. Gleichwohl muß ich Sie darauf hinweisen, von der Existenz sogenannter Sterbedienste Stillschweigen zu bewahren. Auch dazu sind Sie im Rahmen des Kooperationsparagraphen verpflichtet. Sollten Sie dem zuwiderhandeln, so muß ich laut Paragraph X einen Verwaltungsakt einleiten, in dem ich für Sie einen Antrag zur Inanspruchnahme eines privaten Heimgehungsdienstes einreiche, der außerdem mit einem Eilt!-Stempel versehen wird. Der Abschnitt, der die Freiwilligkeit Ihrer Entscheidung behandelt, entfällt bei einem solchen Verwaltungsakt, weil Sie zeitgleich für unzurechnungsfähig erklärt werden und umgehend einen Vormund erhalten, der von der Rentenbehörde gestellt wird. Dieser wiederum unterliegt zwar seinem Gewissen - aber sein Gewissen ist dazu gesetzlich angehalten für effektive und faire Rentengelderverteilung zu stimmen.
Frau L., wir sind keine Barbaren, auch wenn man uns im Volk nicht sehr schätzt. Mit uns kann man reden, wir sind freundlich - und wir widmen uns kompetent jedes Einzelfalles. In diesem Sinne, Frau L., bis nächste Woche...