Wenn der Rezipient zum Produzenten wird….

„Medienschaffende“, so die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel vom letzten Montag (Süddeutsche Zeitung Nr. 282, S. 15), „wollen nicht nur die Köpfe sondern auch die Geldbeutel der Massen anzapfen.“ (Online-Version des Artikels)

Dieser Satz, im Kontext eines Artikels, in dem es um journalistische Netzwerkbildung und Einbezug der ‚Massen’ in die Produktion von Nachrichten geht, zeigt einen aktuellen Trend, oder, besser gesagt, eine aktuelle Tendenz in der Mediennutzung und -gestaltung auf. Natürlich ist es mittlerweile nicht mehr neu, dass Nachrichten via Internet ‚massen’-haft kommentiert, verlinkt, weiter verarbeitet und kontextualisiert werden. „[D]ie stumpfen, unartikulierten Massen“[1], deren Abschaffung Walter Benjamin Ende der 1920er und Anfang der 1930er propagierte und besonders in seinem rundfunkpublizistischen Werk nach besten Kräften auch betrieb, sind längst nicht mehr so unartikuliert wie zu diesen Zeiten. Damals, als der Rundfunk ein noch ganz neues Medium war, bedeutete es schließlich eine große Innovation, wenn Hörervertreter zu Wort kamen. Heute besteht ein großer Teil des Radioprogramms aus Anrufen im Studio. Zeitungsartikel werden entweder – altmodischer – durch Leserbriefe, oder – viel moderner – auf den Internetportalen und Blogs der Zeitungen kommentiert und lebhaft diskutiert. Die ‚Masse’ hat also Wege gefunden, sich zu Wort zu melden. Nur das Fernsehprogramm scheint in dieser Hinsicht etwas zurück zu stehen: So wird es zwar auf der allgegenwärtigen Plattform des World Wide Web besprochen, doch findet dies großteils von den Sendern unabhängig statt und erfreut sich nur selten der Beachtung seitens der ‚Macher’.

Beschränken wir uns hier also auf Zeitung und Radio als „Kulturinstitut[e]“[2], die sich einerseits durch das „Sachverständnis“[3], das sie vermitteln, legitimieren und die andererseits – als Institute – eine Form der qualitativen Kontrolle repräsentieren. Das Internet, und hier nun eine offensichtliche Tatsache, hat einen Sonderstatus: Jeder kann, wenn er will, zugleich Rezipient und Produzent sein. Ob und wie da qualitative Kontrolle erfolgt, soll hier aber nicht Thema sein, sondern vielmehr soll uns beschäftigen, wie die Rolle des Rezipienten sich bezüglich der ‚alten’ Medien geändert hat – und zwar mit dem und durch das Internet, das in diesem Zusammenhang die Position eines Meta-Mediums einnimmt. Der Leser/Hörer kommentiert und diskutiert also (zumeist im Meta-Medium Internet) die Produkte dieser Institute. Dies macht den Konsumenten  aber noch nicht zum Produzenten. Der Zeitungsartikel, das Radioprogramm stehen, erst in einem zweiten Schritt kommt der Rezipient aktiv ins Spiel. Als Autor von Kommentaren greift er nicht in den eigentlichen Produktionsprozess ein, der zu einem großen Teil aus der von der ‚Masse’ unabhängigen Recherche besteht. Der oben zitierte Artikel aus der Süddeutschen Zeitung dokumentiert hier eine Veränderung: Internetportale wie helpareporterout.com nutzen die ‚Masse’ als Informationsquelle, als Rechercheinstrument; Seiten wie spot.us und kickstarter.com bieten die Möglichkeit, Rechercheprojekte freier Journalisten und Dokumentarfilme finanziell zu unterstützen und Zeitungen wie der britische Guardian oder die Huffington Post lassen sich von Lesern bei der Kontrolle von Regierungsdokumenten unterstützen. Die Verschiebung liegt auf der Hand: Rezipienten dienen als Quelle, wählen durch ihre finanzielle Unterstützung aus, welche Recherchevorhaben realisiert werden können; oder greifen durch ihre aktive Beteiligung in den Produktionsprozess direkt ein. Jeder kann so Teil der institutionalisierten (!) Nachrichtenproduktion sein. Ein Trend hin zur Abschaffung der Trennung von Produzent und Rezipient, wie sie Benjamin in seinem Aufsatz „Der Autor als Produzent“[4] fordert, ließe sich hier konstatieren. Wohin führt uns das? Zuerst einmal führt uns das weg von der von Benjamin so arg abgelehnten „Konsumentenmentalität“[5]. Und weiter gedacht? Wenn der Dualismus Produzent-Rezipient im Verschwinden begriffen ist, verschwindet dann nicht auch das Konzept von Radio/Zeitung als ‚Kulturinstitute’? Oder klarer gefragt: Lösen diese traditionellen, mit qualitativer Autorität und Anspruch behafteten Publikationsformen sich dann nach und nach auf, werden Teil des alles verschlingenden World Wide Web, des Kollektivbewusstseins? Im Extremfall: wahrscheinlich. Wenn eine Grenze sich auflöst ergeben sich unendliche Möglichkeiten. Und wir wären am Ende eben doch bei der Frage nach gemeinschaftlicher, ‚vermasster’ Qualitätskontrolle angelangt.

 


[1] Benjamin, Walter: „Reflexionen zum Rundfunk.“ In: Gesammelte Schriften, Bd. II, 3, Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1972, S. 1506.

[2] Ebd. Benjamin verwendet in den „Reflexionen zum Rundfunk“ diesen Begriff zwar nur bezogen auf das Radio, doch kann er durchaus in seinem Sinne auch auf die Zeitung ausgeweitet werden.

[3] Ebd.

[4] Benjamin, Walter: „Der Autor als Produzent.“ In: Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, Suhrkamp: Frankfurt a. Main 1972, S. 683-701.

[5] Benjamin, Walter: „Reflexionen zum Rundfunk.“ In: Gesammelte Schriften, Bd. II, 3, Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1972, S. 1506.


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