Wenn am Ende noch zehn Jahre übrig sind…

Wenn am Ende noch zehn Jahre übrig sind…

Schlecht getimt: Stifters „Witiko“

Nein, das wird jetzt keine melancholische Reflexion über die Fährnisse des Rentnerdaseins… stattdessen soll es um ein Phänomen gehen, das insbesondere in historischen Romanen und Filmen immer wieder für Ärger sorgt: die überflüssigen zehn Jahre am Ende.

Mich hat das schon oft genervt. Die Handlung ist eigentlich bereits abgeschlossen, es kommen nur noch zehn Seiten bzw. fünf Minuten, aber die dumme historische Vorlage erstreckt sich leider über weitere zehn Jahre. Diese zehn Jahre werden dann kursorisch in fünf Minuten abgehandelt, und dann ist das Ding zu Ende.

Wir sehen das z.B. bei Adalbert Stifters „Witiko“. Über die ersten tausend Seiten des Romans blickt man dem Protagonisten in Nahaufnahme über die Schulter, man verfolgt im gemächlichen Stifterschen Chronisten-Tempo, wie Witiko durch sein Leben und die Zeitläufte schreitet, Freunde findet, heiratet, Allianzen schmiedet, Siege und Niederlagen einfährt.

Dann stellt man fest, dass erst ein kleiner Teil seines Lebens vorbei ist und eigentlich noch zehntausend weitere Chronikseiten folgen müssten, um Witiko im selben Tempo bis ins Grab zu begleiten. Dafür fehlt aber selbst Stifter die Geduld. Darum geht es plötzlich ungeheuer schnell: die Jahre huschen nur so vorüber – und der Leser fühlt sich angeschmiert.

Denn er hat sich immer mit Witiko identifiziert, und das wird ihm jetzt verwehrt. Ohne erkennbaren Grund degradiert Stifter seinen Helden plötzlich zu einem kleinen Rädchen im rasenden Ablauf der Geschichte. Die Historie selbst wird zum Protagonisten des letzten Teils. Der Protagonist Witiko aber wird (obgleich man von seinem Älterwerden und Sterben erfährt) am Straßenrand liegengelassen. Der Leser bleibt enttäuscht zurück.

Ein anderes Beispiel ist Cecil B. DeMilles Mose-Epos „Die zehn Gebote“, das ich hier bereits vor ein paar Monaten erwähnt habe (nicht dass der Film so toll wäre, dass er hier ständig auftauchen müsste: es ist – man glaube es mir oder nicht – reiner Zufall…) – Hier wird die Geschichte des jungen Mose, seine Kämpfe mit dem Sklavenaufseher, die Auseinandersetzungen mit dem Pharao, der Auszug aus Ägypten, die Übergabe der Gesetzestafeln ausführlich erzählt. Dem folgen aber noch vierzig Wanderjahre durch die Wüste, und es sind nur noch zehn Minuten Film übrig.

Der Bart des Propheten wird mit jeder Minute fünf Zentimeter länger – im Nullkommanichts linst er als hundertzwanzigjähriger Greis in die Kamera, und der Zuschauer ist angeschmiert. Denn diesen Tattergreis, dem da der Einzug ins Heilige Land verwehrt wird, hat er nie kennengelernt. Der Protagonist des Films war ein junger Querkopf. Den aber hat DeMille zwischendurch am Straßenrand liegengelassen. Die Geschichte wird nicht zueendeerzählt. Der Zuschauer bleibt enttäuscht zurück.

Wie man es besser machen kann, zeigt Frank Capra in seinem Klassiker „Lost Horizon“ (1937, dt. „In den Fesseln von Shangri-La“). Der Protagonist Robert Conway, ein nach Shangri-La entführter Engländer, hat kurz vor Schluss bereits fast alles erreicht: er hat in Shangri-La seinen Frieden und seine große Liebe gefunden und wurde sogar zum neuen Leiter der verborgenen Gemeinschaft bestimmt.

Das einzige ungelöste Problem ist sein Bruder, der zurück nach England will und sich nicht traut, allein durch den Himalaya zu reisen. Also begleitet Conway ihn widerstrebend zurück in die Zivilisation – und findet anschließend nicht wieder den Weg nach Shangri-La. Seine Suche nach dem mythischen Ort erstreckt sich über geschlagene zehn Monate – mehr als die gesamte vorher im Film vergangene Zeit. Nur allzuleicht hätte Capra an dieser Stelle die Dramaturgie verpfuschen können.

Doch er verfällt auf den bemerkenswerten Trick, ein klassisches Theater-Stilmittel zu revitalisieren: er zeigt uns die Suche nicht direkt (was im Film kein Problem wäre), sondern mithilfe eines Botenberichts. Wir sehen den distinguierten Lord Gainsford, der den Auftrag hatte, Conway zu suchen, wie er in höchster Erregung seinen Londoner Freunden von den unglaublichen Heldentaten des Protagonisten berichtet:

Gentlemen, in the whole course of my life, I’ve never encountered anything so grim. During those last 10 months, that man has done the most astounding things! He learned how to fly, stole a plane, got caught, put in jail, escaped, in an amazingly short space of time. This is only the beginning of his adventure. He begged and fought, pushing forward to the Tibetan frontier. Everywhere I heard these amazing stories of the man’s adventures – till eventually I trailed him to the most extreme outpost in Tibet! Of course, he had already gone. But his memory will live with those natives for the rest of their lives. „The man who was not human,“ they called him. They won’t forget the stranger who tried six times to climb a mountain pass that no other human being dared to travel – and six times was forced back by the severest storms. They won’t forget the madman who stole their food and clothing. Who they locked up in their barracks and who fought six guards to escape. Their soldiers are still talking about their pursuit to overtake him and shuddering at the memory. He led them the wildest chase through their own country. Finally, he disappeared over that very mountain pass that they themselves dared not travel. And that, gentlemen was the last that any known human being saw of Robert Conway.

Auf diese Weise erreicht Capra, was Stifter und DeMille nicht zuwegebrachten: man verliert trotz des Zeitsprungs nicht den Fokus auf den Protagonisten. Der entscheidende Unterschied ist die Erregung, mit der Lord Gainsford spricht. Durch sie bleibt der Zuschauer nah dran am Protagonisten, anstatt wie bei Stifter und DeMille in die historische Totale zu zoomen. Die Geschichte geht weiter – und wird zuendeerzählt: Ganz am Schluss sieht man für wenige Sekunden Conway, wie er die Tore von Shangri-La erreicht, woraufhin die Glocken der verborgenen Stadt läuten. Diese Einstellung dauert nur einen kurzen Augenblick – eine bemerkenswerte Verdichtung, wo die Gefahr der Verdünnung so groß war. Ein grandioses Timing, von dem man sich einiges abschauen kann.


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