Der volkstümliche Bilderreigen aus Wissembourg
Ein grimmig dreinblickender Chinese mit offenem Mund, ein Gorilla mit einem Zylinder in der Hand, Heiligenbildchen mit Goldverbrämung, ein Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, der Ausbruch des Mont Pelée auf Martinique im Jahre 1902, aber auch die Köpfe von Osterhasen und Weihnachtsmännern – all das und noch viel mehr ist derzeit auf bunten Papierbögen in der Galerie Heitz im Palais Rohan in Straßburg zu sehen. Bei der Ausstellung „Welten aus Papier – die Weißenburger Bilderbogen“, die in Zusammenarbeit mit dem Elsässischen Museum gestaltet wurde, kann man sich mit einem speziellen Kapitel der elsässischen Volkskultur vertraut machen. Nämlich der Produktion der Firma Wentzel, die im Jahre 1839 in Weißenburg – auf Französisch Wissembourg – gegründet worden war.
Die Firma Wentzel zählte im 19. Jahrhundert zu einer der führenden Firmen auf dem Gebiet des Farblithodruckes und versorgte große Teile Europas mit ihren Erzeugnissen. Durch ein Depot in Paris gelangten die bunten Papierbögen nach ganz Frankreich, aber auch in den Süden bis nach Arabien. Vom Elsass aus wurde der Osten Europas bis hin nach Polen versorgt. Erst 100 Jahre nach ihrer Gründung stellte das Unternehmen seine Produktion ein, nach einer wechselvollen Geschichte, die durch die ebenso wechselvolle des Elsass selbst gekennzeichnet war.
Bahnhof, Fr. Wentzel, zwischen 1865 und 1869, Farblithographie, 30,5 x 45,2 cm. Straßburg, Elsässisches Museum (c) Photo : M.Bertola
Bis in das Kriegsjahr 1870, in welchem das Elsass von den Deutschen erobert worden war, produzierte Wentzel seine Produkte fast ausschließlich zweisprachig, da die elsässische Kundschaft Deutsch las und schrieb. Zu Beginn hauptsächlich mit der Verbreitung von religiösen Motiven beschäftigt, erkannten die Unternehmer rasch, dass das Geschäft mit den Kindern ein mindestens gleich lukratives war. Spiele, kleine Puppen, Theaterkulissen und auch optische Bilderbögen wurden zu Hunderttausenden durch fahrende Händler, aber auch in Buchläden verkauft. Wentzel trug jedoch nicht nur zur Erbauung der Bevölkerung, sondern auch ganz im staatstragenden Sinne, zu deren Bildung bei. In geschichtlichen Serien brachte man das Leben von legendären Romanhelden aber auch biblischen Geschichten anschaulich unter das Volk. Auch die Konterfeis der großen französischen Republikaner bis hin zum Papst fanden Eingang in die Wohnstuben, die damals noch lange nicht mit einem Fernseher ausgestattet waren.
Der Frosch auf dem Ball, R. Ackermann, zwischen 1906 und 1918, Chromolithographie, 129 x 58 cm. Straßburg, Cabinet des Estampes et des Dessins. (c) Photo : M.Bertola
Dass die Menschen im Elsass schon damals unterschiedlicher religiöser Herkunft waren, zeigt die Wentzel'sche Produktion ebenso deutlich. Neben den christlichen Motiven, das Herz Jesu oder die leidende Jungfrau zum Beispiel, gab es auch lutheranische wie eine Abbildung der großen Reformatoren Martin Luther, Philipp Melanchton, Johannes Calvin, Ulrich Zwingli und Jan Hus, jüdische wie z.B. Moses und die Gesetzestafeln und sogar Suren aus dem Koran, die wohl auf Bestellung aus dem Ausland angefertigt worden waren. Wentzel druckte alles, was geschäftlichen Erfolg versprach.
Das Unternehmen gehörte damals zu den fünf wichtigsten auf dem Kontinent und stand in scharfer Konkurrenz zu seinen Mitbewerbern. Die Abwerbung von Fachkräften hatte oftmals gerichtliche Nachspiele, eine Kooperation unter den verschiedenen Firmen war zur damaligen Zeit jedoch gänzlich ausgeschlossen. Jedes Blatt musste im 19.Jahrhundert noch der Zensur vorgelegt werden, eine Verbreitung staatsgefährdender Ideen war dadurch gänzlich ausgeschlossen.
Der Gang durch die Ausstellung lässt gute Rückschlüsse auf die noch beschauliche Verbreitung von Neuigkeiten zu, denn das Feuer in der Pariser Oper im Jahre 1887, oder der Aufstand der Hereros 1904 in Deutsch-Westafrika benötigte mindestens wenige Wochen zur Verbreitung im ganzen Land. Die lebensgroßen, aus vier Bögen zusammengesetzten Darstellungen von Damen, Jägern, Hofnarren, Rittern, Kartenfiguren und allerlei mehr, zierten viele Gaststätten und die ersten Vereinslokale, die sich damit ein modernes, optisches Image verpassten.
„Welten aus Papier“ bietet einen Gang in die Geschichte des 19. und früheren 20. Jahrhunderts. In jene Zeit, in der Bildmaterial noch rar, die Fantasie dafür umso gefragter war.
Näheres unter: http://www.musees.strasbourg.eu