“Hast Du Dich wieder kostümiert?” Die spöttische Bemerkung meiner Frau ist beinahe schon lieb gewordenes Ritual, bevor ich mich am Wochenende auf mein Rennrad schwinge, um der beliebtesten Sportart der Deutsche zu frönen. Fast 30 Prozent unserer Bevölkerung fährt regelmäßig Rad. Nicht alle haben dabei sportliche Ambitionen, doch der Gewinn oder Erhalt körperlicher Leistungsfähigkeit ist meist ein ebenso großer Motivationsgrund, wie das landschaftliche Erlebnis im Wald oder auf der Straße.
Radfahren macht Spaß – vorausgesetzt, man ist mit der richtigen, funktionalen Kleidung unterwegs. Neben einer gepolsterten Hose (den Hartgesottenen genügt hier ein einfacher Ledereinsatz im “Zwickel”, andere bevorzugen üppige Schaumstoff- oder Gelpolster) spielt das Radtrikot eine zentrale Rolle. Kurzarm oder Langarm, mit kurzem, langem oder gar durchgängigem Reißverschluss, hinten immer etwas länger geschnitten als vorne: Ein Radtrikot ist ein design-technisches Meisterstück, zugeschnitten speziell auf die Erfordernisse des Radfahrens.
Vorne kurz, hinten lang: Radtrikots folgen im Schnitt der Proll-Frisur der Siebziger, haben aber mehr Funktion
“Hast Du Dich wieder kostümiert?” Diese Frage zielt natürlich speziell auf das Design moderner Radtrikots ab. Rennradfahrer eifern gerne ihren echten oder vermeintlichen Idolen im Straßenradsport nach. Grellbunte Hemden werden von Sponsorenlogos “verziert”, über Geschmack lässt sich dabei oft ebenso streiten, wie über sportliche Ethik – denn natürlich werden zahlreiche Profi-Radställe mit Doping in Verbindung gebracht. Nicht streiten lässt sich indes über die Funktionalität, die wir an dieser Stelle etwas genauer unter die Lupe nehmen wollen.
Von Ärmlingen und roten Schulterkugeln
Kurzarm, Langarm – oder gleich ganz ohne? Schon zu Beginn des Frühjahrs sind Radfahrer oft stolz auf einen markanten Streifen am Oberarm. Er trennt die gebräunte Haut unterhalb des Ärmelansatzes vom bleichen Rest des Sportlerkörpers. Wenn es irgendwie geht, fahren Rennradler und Mountainbiker kurzärmelig, schon aus ästhetischen Gründen. Das klassische Langarm-Trikot wird vornehmlich in der kalten Jahreszeit getragen, meist noch unter einer Wind- oder Wetterjacke. Wer in der Übergangs- oder Sommerzeit unterwegs ist, hat alternativ häufig so genannte Ärmlinge dabei. Mit ihrer Hilfe lässt sich das Kurzarm-Radtrikot beim Start am kühlen Vormittag langärmelig machen – und wenn man auf Temperatur ist, zieht man sie einfach aus und verstaut sie in der Rückentasche. Im Hochsommer sind auch ärmellose Trikots beliebt. Das hebt das Freiheitsgefühl ab Tempo 30, erfordert allerdings intensivere Vorbereitung: Nur der gezielte Einsatz von Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor verhindert eine knallrote Schulterkugel nach dreistündiger Tour…
Freie Sicht auf den Bauchnabel
Der Reißverschluss. Er ist beim Radtrikot weit mehr als modisches Accessoire. Geschlossen bis obenhin schützt er an kühlen Tagen die empfindliche Brustregion vor kaltem Luftstrom. Der Rundkragen moderner Radtrikots schließt dank eines breiten Gummizugs fest um den Hals. Der Reißverschluss ist in der Regel von einem Textilband unterlegt, was das Reiben an der Hautoberfläche verhindert. Kommt der Körper im Verlauf der Tour langsam auf Temperatur, kann der Reißverschluss geöffnet werden und ein kühler Luftzug reguliert den Wärmehaushalt des Sportlers. Das klassische Radtrikot verfügt über einen rund 20 Zentimeter langen Reißverschluss. Es geht aber auch noch länger. Gerade in den Sommermonaten sind Trikots mit extralangen Reißverschlüssen (oft bis zum Bauchnabel, bekannt als 3/4-Reißverschlüsse) beliebt – und “Bergziegen” schwören auf Hemden, die sich vorne komplett öffnen lassen. Sie flattern dann beim schweißtreibenden Anstieg lose um den Sportlerkörper und vermitteln so zumindest ein Gefühl zusätzlicher Kühlung.
Schweiß hat auf der Haut nichts verloren
Das Material. Radtrikots müssen besonderen Anforderungen genügen. Ihr Stoff muss die Feuchtigkeit des Körpers schnell nach außen transportieren, soll dabei selbst aber möglichst wenig Feuchtigkeit aufnehmen und dem Fahrer ein trockenes Gefühl geben. Wolle oder Baumwolle sind für Radtrikots deshalb völlig ungeeignet – verwendet werden moderne, fein gewebte Kunststoffe (Funktionskleidung), die auch Reibungsstellen auf der Haut vermeiden. Trikots für die Übergangszeit sind innen mit flauschigem Microfaser-Material ausgepolstert, Sommertrikots kommen luftiger daher. Gummizüge am Kragen, an den Ärmeln und am Abschluss sorgen dafür, dass die Außenluft nur bei geöffnetem Reißverschluss an den Sportlerkörper gelangt.
Profioutfits untermauern eigene sportliche Ansprüche
Das Design. Wie eingangs erwähnt sind Radtrikots hinten etwas länger geschnitten, als auf der Vorderseite. Sie tragen damit der Tastsache Rechnung, dass Radfahrer leicht vornübergebeugt im Sattel sitzen und sich ihr Rücken so erheblich verlängert. Das Standard-Radtrikot besitzt auf der Rückseite – in der Nierengegend – eine dreigeteilte, dehnbare Rückentasche, in der sich alles mögliche verstauen lässt. Vom Ersatzschlauch bis zum Geldbeutel, vom medizinischen Notfallpäckchen bis zum Asthmaspray passt hier fast alles hinein, was im Laufe eine Tour irgendwie gebraucht werden könnte. Poppige Farben und schräge Designs sind bei Radtrikots gang und gäbe – Radsportler fallen gerne auf und wollen die optische Nähe zu den Outfits der Profis als Indiz für ihre sportlichen Ansprüche gewertet wissen.
“Hast Du Dich wieder kostümiert?” Ja. Seit mehr als einem halben Jahrzehnt kostümiere ich mich vorzugsweise im bekannten Banesto-Look des fünfmaligen Tour-de-France-Siegers Miguel Indurain. Der 1,88 m große Baske mit seiner legendären Acht-Liter-Lunge gewann den Klassiker vor der dopingverseuchten Zeit der Herren Armstrong und Ullrich. Vielleicht war er auch gedopt – aber keiner weiß es. Jedenfalls war er ein herausragender Sportsmann, ein bärenstarker Zeitfahrer und nimmermüder Kämpfer an den Bergen der Alpen und der Pyrenäen. Er ist etwa in meiner Altersklasse, wenn auch etwas leistungsstärker. Banesto – ein spanisches Bankhaus – ist heute nicht mehr als Radsponsor tätig. Vereinzelt kann man die flauschigen Trikots aus etwas kräftigerem Stoff noch heute kaufen. Sie sind – wie ihre Träger heute – in Würde gealtert. Den Jüngeren ist die breite Palette moderner Radsportbekleidung zu empfehlen – mit allen Vorzügen, die den beliebtesten Sport der Deutschen zu einem noch schöneren Freizeiterlebnis werden lassen.