Weihnachten im Ruhrgebiet

Weihnachten. Irgendwann waren wir wieder in die Gewohnheit verfallen, unsere Eltern zu besuchen. Das bedeutet: 500km hin, 500km zurück. Über die A2. Weihnachten ist die Quadratur des Kreises: Im Kreise der Familie und Verwandten und auch alten Schulfreunde besinnlich beisammen sein. Das Jahr ausklingen lassen, sich an alte Zeiten erinnern und neue Zeiten prognostizieren. Dabei gut essen und trinken. Aber jedes Jahr die Frage: Wie kriegt man alle Erwartungen -die der anderen und die eigenen- unter einen Hut? Weihnachten heißt reisen, beisammen sein und dann wieder trennen. Viele Leute in kurzer Zeit. Erst auf der Rückfahrt oder sogar danach verarbeite ich Neuigkeiten, die ich gehört habe.
Am Montag war ich um 17 Uhr auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt verabredet. Mit alten Schulfreunden. Eine alte Tradition: am 23.12. am Glühweinstand. Auch wer mehrere Jahre nicht dabei war, kann blind hingehen und wird jemanden von damals treffen.
Und um mich in die richtige Stimmung zu bringen, verzichtete ich auf das Angebot meines Vaters, mich mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Ich wollte die Straßenbahn nehmen - wie zu Schulzeiten. In Ruhe sehen, wie sich alles entwickelt hat. Ich ging also die Straße meines Elternhauses entlang in Richtung Sparkasse. Das Gebäude hat einen Durchgang durch den man zum Hellweg gelangt. Dies ist die Einkaufsstraße. Früher gab es hier "Beche", einen größeren Tante-Emma-Laden für Obst, Gemüse und Fleisch. Heute würde man sagen: Feinkost. Diesen Laden -das Juwel- gibt es nicht mehr.  Auch den Bäcker "Bremkamp" gibt es nicht mehr. Denn seit REWE gegenüber einzog, kauften die Leute Kaffee und Brötchen und Brot dort. Die Bäckerei hatte früher schön geschmückte Schaufenster. Hexenhaus, Nikolaus, Rute mit Süßigkeiten. Den Zeitschriftenladen gibt es noch, aber er gehört nicht mehr "Lohsträter". Das Fischgeschäft ist zu. Den Radio- und Schallplattenladen gibt es natürlich auch nicht mehr. Ebenso das Fachgeschäft für Damen- und Herrenmoden "Rarey". wo es Verkäuferinnen mit Lesebrille und Bandmaß über der Schulter gab. Die Eisdiele und die Fahrschule aber, die gibt es noch. Hier endet die Einkaufszeile und ich quere die Straße rüber zur Haltestelle. Und dahinter liegt ein kleiner Stadtpark mit einem "Pilz". Früher wartete ich hier auf meine Schulfreunde. Oft sah ich gleichzeitig die Straßenbahn um die Kurve kommen und meine Freunde am Pilz vorbei. Wenn ich ihnen das Zeichen gab, rannten sie, um die Bahn noch zu erwischen.
Meine Großeltern wohnten nicht weit von hier. Die eine Hälfte einen Ortsteil weiter Richtung Innenstadt, in den "Eisenbahnerwohnungen". Ganz früher besuchten wir diese am Heiligen Abend. Es gab immer ein Spielzeug und einen gefüllten Holzschlitten von Coop oder vom Bäcker. Wir spielten mit den alten Vikingautos von meinem Vater. Die Wohnküche wurde mit einem Kombigerät aus Herd und Ofen beheizt. In den 70ern roch es in allen Siedlungen nach Kohlöfen. Und über den Einkaufsstraßen quer gespannt hingen Lichterketten mit Sternen.
Die Bahnen waren früher chronisch überfüllt. Der Dortmunder Osten gehörte zu den funktionierenden, Steuern zahlenden Stadtteilen, aber wir wurden von der Stadt stets unterversorgt. Schüler und Angestellte quetschten sich immer in überfüllte Bahnen. Die alten Bahnen fuhren hier noch, als es in den SPD Stadtteilen längst moderne Wagen gab, die man zu Gespannen koppeln konnte. Um so überraschter war ich, als nun ein modernes Doppelgespann ankam. Dabei war die Bahn jetzt höchstens zu einem Viertel gefüllt. Auch war ich - das muss ich leider sagen- in der Minderheit. In der weißen Minderheit. Ich fühlte mich plötzlich fremd im eigenen Stadtteil. Und unterwegs änderte sich das nicht. Wo früher Beamte und Lehrer wohnten, stiegen weitere Südländer ein. Ebenso an der Funkenburg, wo sich damals Post- und Eisenbahnerwohnungen zusammen mit Franziskanerkirche und Ostpark zu einer katholischen Hochburg kombinierten, stiegen junge Südländer in die Bahn. Und im weiteren Verlauf ging es abwärts in den Untergrund. Die Strecke war im Innenstadtbereich zur U-Bahn umgebaut worden. - Warum erst heute?
Etwas mulmig war mir, als ich an der U-Bahn "Ostentor" ausstieg. Ich ging den Brüderweg hoch - mein früherer Weg zum Gymnasium. Natürlich auch hier alles voller Erinnerungen. Auf wen man wartete, mit dem wem man mittags zurückging. Es gab einen Bäcker, wo man sich morgens ein Negerkussbrötchen kaufe, und an St. Martin einen Brezel. Und das "Grammo", eine Oberstufenkneipe. Ich bog ab nach rechts, Richtung Westenhellweg. Doch bevor ich die Fußgängerzone erreichte, musste ich vorbei an Spielhallen mit schwarzen Türstehern. Ich wechselte die Straßenseite, aber wo früher ein Tanzcafe gewesen war, heute auch eine Spelunke, aus der holländisch sprechende Südländer kamen.. Oh mein Gott, dachte ich, und zu regnen hatte es auch wieder angefangen.
Auf dem Westenhellweg gab es früher ein altes ehrwürdiges Café, Juweliere, Schuhgeschäfte, ein zweistöckiges Spielwarengeschäft "Lütgenau", an das ich die allerbesten Erinnerungen habe. Es gab Herrenausstatter, Elektronikfachgeschäfte, Plattenläden, und "Bücher Krüger" in der Passage". Außer dem Spielzeugladen nichts mehr da. Aber die Schaufenster von Lütgenau sind heute nicht mehr das, was sie mal waren. Als Modelleisenbahnverkäufer zur Höchstform aufliefen und wir Kinder uns die Nasen am Schaufenster platt drückten.
Aber kein Wunder, die meisten Passanten schauten eh nicht in die Schaufenster, sondern auf ihre Smartphones. Ich schlenderte entlang und kam endlich an den Weihnachtsmarkt. Wenigstens hier war alles noch wie früher, eher sogar besser. Schöne alte Buden, Weihnachtsbäume, Lichterketten bis hoch zum Turm der Reinoldikirche. Der Markt verteilt sich über drei Plätze: Neben der Kirche noch über den Alten Markt und auch den Hansaplast, wo der "größte Weihnachtsbaum" Deutschlands steht. Und hier traf ich meine alten Freunde. Bis hierhin war ich schon voller neuer Eindrücke. Aber es ging noch weiter. Einer von ihnen hatte seine Schwester und deren Gatten dabei, man hatte noch Geschenke für die Kinder eingekauft. Wir machten ein Selfie am "Selfie-Point". Herrlich, Leute wieder zu treffen, mit denen man sofort wieder Spaß hat, auch wenn man sich nur selten sieht.
Weihnachten im Ruhrgebiet
Weihnachten im Ruhrgebiet
Weihnachten im Ruhrgebiet
Dann Glühweinstand, und dann etwas essen. Und dann in die alte Kneipe am Alten Markt, eine urige Dortmunder Kneipe. Altes Haus, mit Holz ausgebaut, Holztreppe auf die Empore. Man zapft Brinkhoffs und Hövels. Der Urlaub hat gerade erst begonnen, man hat Eltern noch vor sich - und jetzt wird erstmal angestoßen wie früher! Wir trafen uns um 17h. Der erste verabschiedete sich um 23h. Der Rest ging noch auf einen Absacken in das letzte Stammlokal, bevor wir alle nacheinander aus Dortmund weggezogen waren. Und hier blieben wir bis halb zwei :-).
Wir haben die fünfzig hinter uns und können inzwischen alle von Beruf und Wanderungen erzählen. Die Geschichten über Stress und Ärger sind weniger geworden. Wir mokieren uns inzwischen eher über den Nachwuchs :-). Wir arbeiten in den Branchen, die heute noch gehen, aber keiner weiß, wie lange noch: Automobilbau, Flugzeugtriebwerke, Elektroantriebe und Lebensmittel (nicht vegetarisch). Aller erleben wir Umbrüche in unseren Branchen und alle rollen wir mit den Augen über die Regierungen. Und diesmal war es das erste mal, dass wir uns auch über Betriebsrente und Altersteilzeit austauschten...
An diesem Abend war meine bessere Hälfte mit den Ihren in der verbotenen Stadt auf dem Weihnachtsmarkt. Und was sie später erzählte fasse ich mal mit den Worten zusammen: Noch nennt man ihn "Weihnachtsmarkt". Aber eigentlich ist er schon keiner mehr..
Es war schön, in alten Zeiten zu schwelgen - mit dem Bewusstsein, uns alle rechtzeitig vom Acker gemacht zu haben. Aber wir sind froh, dass die Eltern immer noch hier wohnen, und wir immer wieder hierher zurückkommen können (um uns wieder zu vergewissern).
Wer sagte das noch: Man sieht es einer Stadt an, wenn sie 40 Jahre unter der SPD gelitten hat. Genau das trifft auf das gesamte Ruhrgebiet zu. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit.
Weihnachten im Ruhrgebiet

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