„Was soll man machen, wenn die Klischees stimmen“

Tschechien war 2019 das Gastland auf der Leipziger Buchmesse. Pünktlich dazu kam Martin Beckers neues Buch „Warten auf Kafka – Eine literarische Seelenkunde Tschechiens“ heraus.

In dem heiteren Essayband nimmt Martin Becker seine Leser mit auf eine Kneipentour durch die Literatur. „Wenn wir über tschechische Bücher und die tschechische Seele reden wollen, dann müssen wir zusammen in der Kneipe sitzen. Das Kneipengespräch ist hier nämlich so etwas wie Poesie, aus dem Katzenjammer danach wird nüchterne Alltagsprosa geschmiedet.“ Becker erzählt in dem Buch Geschichten von und über tschechische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Geschichten vom Ankommen und Geschichten vom Abschied. Und natürlich darf hierbei auch Franz Kafka nicht fehlen. Ich habe mit Martin über sein Buch, die tschechische Literatur und Tschechien im Allgemeinen gesprochen.

Dein im März erscheinendes Buch heißt „Warten auf Kafka“. Davor hast du bereits eine Anthologie mit junger tschechischer Literatur und eine „Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien“ herausgegeben. Was verbindet dich eigentlich persönlich mit Tschechien?

Tatsächlich eine kitschige und romantische Liebesbeziehung, sofern es das zu einem Land geben kann! Als Jugendlicher entdeckte ich – ebenso kitschig und romantisch – Kafka und Kundera, erst 2006 war ich dann wirklich erstmals in Prag. Und tatsächlich war ich bei der direkten Begegnung mit Tschechien, mit den Menschen und mit der Sprache dort nur noch faszinierter: Hier willst du so oft wie möglich sein, dachte ich. So war ich fortan nicht nur nahezu jeden Monat in Prag, ich lernte auch tolle Leute kennen, allen voran Jaroslav Rudiš, der heute einer meiner besten Freunde ist und mit dem ich seit über zehn Jahren auch immer wieder zusammen an Projekten arbeite. Den Wunsch, mal länger als einige Wochen in Prag zu leben, wollte ich mir erst 2017 erfüllen, als ich für Warten auf Kafka recherchierte und mir eine kleine Wohnung in Prag mietete – aus vielen privaten Gründen war ich letztlich viel zu selten dort und musste die Wohnung im Herbst 2018 wieder aufgeben. Kurzum, um zum Liebesbild zurückzukehren: Tschechien und ich, das bleibt offenbar doch besser eine Fernbeziehung. Aber eine sehr intensive.

Dein Buch ist als „Eine literarische Seelenkunde Tschechiens“ untertitelt. Man erfährt dort durchaus einiges über, wenn man es so nennen mag, tschechische Charakterzüge. Vor allem ist viel die Rede von Melancholie und, ja, auch ein gewisser Alkoholkonsum kommt zur Sprache. So sind etwa die Kapitel mit „Erstes Bier, zweites Bier“ und so weiter überschrieben. Das erinnert ein wenig an die russische Seele. Ähneln sich Russen und Tschechen?

Das kann nicht nicht beurteilen, dazu weiß ich viel zu wenig über Russland und die Menschen dort. Ich glaube, Tschechinnen und Tschechen würden sich nicht so sehr freuen über den Vergleich: Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts samt der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 wirkt bis heute nach und entsprechend allergisch reagiert man mitunter, wenn beispielsweise im Ausland die eigene Sprache für das Russische gehalten wird. Grundsätzlich finde ich das mit dem Bier und der Melancholie sehr Tschechisch und unverwechselbar. Tut mir leid, aber auch, wenn ich es nicht genau weiß: Ich glaube, da können die Russen nicht mithalten!

Nun ist Tschechien in diesem Jahr Gastland der Leipziger Buchmesse. Was hat das Land an aktueller Literatur zu bieten? Kannst du ein wenig über die junge tschechische Literaturszene erzählen?

Mir kommt die junge Literaturszene immer agiler vor in den letzten Jahren, es gibt mittlerweile in Prag das „Literarische Zentrum“, man organisiert sich mehr als früher, und das ist auch gut so. Natürlich ist es viel schwieriger, in Tschechien von der Literatur und vom Schreiben zu leben als in Deutschland, die Leserschaft ist kleiner, und während man hier in Deutschland durchaus auch mal einige Monate nur von Lesungen leben kann, ist das in Tschechien unmöglich. Die aktuelle Literatur ist für mich sehr spannend, besonders jetzt, wo so viele Titel ins Deutsche übersetzt werden und hoffentlich auch ihr Publikum finden. Wo soll man da anfangen?

Wenn ich zwei von mir besonders geliebte Titel herausgreifen müsste, dann wären das ein Roman und ein Gedichtband: Im Schrank von Tereza Semotamová erzählt auf ungewöhliche wie fantastische Weise von unserer jungen Generation, von Verzweiflung, von der Suche nach einer Möglichkeit, sein Leben zu leben. Eine junge Frau zieht in einen Schrank im Hinterhof, das ist die Grundgeschichte. Und ich freue mich extrem auf die Gedichte von Petr Hruška: Irgendwohin nach Haus versammelt erstmals eine Auswahl dieses großen Dichters aus der Bergarbeiterstadt Ostrava in einem Band. Für mich allein zwei Gründe in Buchform, warum sich Tschechien als Gastland schon gelohnt hat!

Wo wir gerade bei junger tschechischer Literatur sind, gibt es Unterschiede zur deutschen Literatur?

Natürlich sind das Klischees, aber was soll man machen, wenn sie stimmen: Bei der Anthologie Die letzte Metro ist Mitherausgeberin und Übersetzerin Martina Lisa und mir aufgefallen, dass tatsächlich viele Texte nach wie vor in der Kneipe spielen, dort anfangen oder dort enden. Das ist sicher der eine Aspekt: So viele Geschichten in der Kneipe habe ich in Deutschland selten gelesen. Die andere Sache ist der Humor: Ich spitze zu, sagen wir mal, das ist ein nicht ganz so einfaches Feld in der deutschen Literatur. Es sei denn, es ist ganz dick und mit dem Filzstift LUSTIG auf das Buchcover geschrieben. In Tschechien ist das anders, der Humor gehört für mich auf viel natürlichere Weise zur Literatur dazu. Und die kann ja trotzdem ganz schön ernst sein.

Tschechien wird ja aktuell von einer populistischen Regierung geführt. Hat das irgendwelche Auswirkungen auf die Literaturszene? Gibt es kritische Stimmen? Oder können kritische Schriftsteller gar Probleme unter dieser Regierung und in einem weiter nach rechts driftenden Klima bekommen?

Ich glaube, niemand wird richtig Probleme bekommen, zum Glück. Das gesellschaftliche Klima hingegen hat sich durchaus verschärft. In einem Interview erzählte mir beispielsweise der Literaturhistoriker und Autor Martin C. Putna, dass er häufiger auf offener Straße beschimpft wird als früher. Putna ist schwul und setzt sich für gesellschaftliche Offenheit ein – und bekannte sich in unserem Gespräch eindeutig dazu, mittlerweile Angst zu haben. Auch soll es angeblich in sehr rechten Kreisen Listen mit „Kaffeehausintellektuellen“ geben, auf denen auch Freunde von mir stehen. Man merkt: Einige Entwicklungen gehen in keine gute Richtung, aber es gibt ja in der Tat und hoffentlich auch genug kritische Stimmen, die ein Gegengewicht schaffen.

Noch einmal zu dem Titel deines Buchs „Warten auf Kafka“. Wie wird Kafka heute in Tschechien gesehen, als Jahrhundertautor oder Touristen-Souvenir?

Beides gleichermaßen, würde ich sagen! Die Tschechinnen und Tschechen entdecken ihn ja erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit außerhalb des Souvenirgeschäfts, die ins Tschechische übersetzte Gesamtausgabe von Kafkas Werken ist vor wenigen Jahren erst komplettiert worden und in der kommunistischen Ära war Kafkas Literatur verpönt – insofern ist er gerade erst dabei, auch für Tschechien selbst ein Held zu werden. Entwicklungen wie die Kafka Band, die mit vertonten Kafka-Texten erfolgreich sind, deuten aber eindeutig in eine Kultrichtung.

Verrätst du uns noch, wer eigentlich auf Kafka wartet? Und hat die Person vergeblich gewartet oder ist Kafka tatsächlich noch aufgetaucht?

Gegenfrage: Wer wartet nicht auf Kafka, wenn er in Prag ist? Aber im Ernst, bei mir ist es ein etwas verzweifelter Mann, der in einer Prager Nonstop-Kneipe sitzt. Die Warterei lässt immerhin die Nacht schneller vergehen – und wer weiß, wer da letztlich auftaucht, ob es Kafka selbst ist oder nicht, das darf ich nicht sagen, das wäre ja so, als würde ich das Ende eines Romans schon vorab erzählen!

Das Interview führte ich für jádu – Das deutsch-tschechische Onlinemagazin des Goethe-Instituts Prag

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