Was ist Druck?

Zug ist ökonomischer als Druck. Davon bin ich überzeugt. Aber was ist denn Zug? Wie kann man Zug (pull) von Druck (push) unterscheiden? Die Antwort bin ich noch Kommentator Mike M schuldig.

Bisher schien es mir einfach, Zug zu erkennen. Liegt der denn nicht auf der Hand, wenn er vorhanden ist? Aber Mikes Nachfrage hat mich widererwarten ein bisschen ins Schwitzen gebracht. “Ich erkenne ihn, wenn ich ihn sehe” ist zu wenig. Also: Was ist Zug?

Um das zu beantworten, ist erstmal zu klären, was Druck ist. Zug ist ja nicht nur die Abwesenheit von Druck, sondern das Gegenteil. Das habe ich ja auch mit der kleinen Bilderserien hier verdeutlichen wollen. Ein anderes Beispiel, das mir später eingefallen ist: der Umgang mit Anhängern.

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Stellen Sie sich vor, diese Anhänger nicht zu ziehen, sondern zu schieben. Das geht nicht. Das geht zumindest nicht, solange sie so flexibel gekoppelt sind.

Anders ist das bei einem Zug. Da ist der Name zwar normalerweise Programm: bei einem Zug wird mit einer Zugmaschine gezogen wie bei einem LKW-Gespann. Aber bei einem Zug können Waggons auch geschoben werden. Das Bild lässt also nicht erkennen, in welche Richtung der Zug gerade fährt.

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Einen Zug über Druck zu bewegen – klingt widersprüchlich, oder? - ist trotz der relativ flexiblen Kopplung der Waggons möglich, weil die auf Schienen laufen. Das Gespann kann sich beim Druck nicht verziehen.

Womit wir bei der Definition von Druck wären. Wikipedia sagt:

“Der Druck ist ein Maß für den Widerstand, den Materie einer Verkleinerung des zur Verfügung stehenden Raumes entgegensetzt.”

Das versuche ich mal zu übersetzen und zu verallgemeinern, damit der Begriff Druck auch auf nicht-physikalische Systeme anwendbar ist:

Druck entsteht, wenn mehr Leistung bei gleicher oder reduzierter Optionenzahl erbracht werden soll.

Beispiel 1: Eine Maschine in einem Herstellungsprozess kann 4 Teile pro Minute verarbeiten. Bisher wurden ihr diese 4 Teile auch geliefert. Aber nun hat man entschieden, den Prozess upstream zu optimieren und es werden zukünftig 6 Teile pro Minute angeliefert. Die Maschine gerät damit unter Druck.

Beispiel 2: Das Entwicklungsteam hat sich für die Woche 4 User Stories vorgenommen. Am Donnerstag kommt der Geschäftsführer aber herein und sagt, er brauche ganz dringend noch eine Einschätzung zu einer Ausschreibung, an der man sich beteiligen wolle. Dafür seien 200 Seiten bis Freitag Mittag durchzuarbeiten und einzuschätzen. Das Team gerät damit unter Druck.

Druck entsteht in beiden Fällen, weil von einer Ressource mehr erwartet wird, ohne dass ihre Kapazität erhöht würde. Eine Maschine kann darauf gar nicht von sich aus reagieren; die ist emotionslos. Der Druck zeigt sich in einer wachsenden Warteschlange/Halde vor der Maschine. In einem Prozess stellt sie die Verformung dar, die wir in der physischen Welt so leicht als Zeichen von Druck erkennen:

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Bei Menschen ist das anders. Die sind grundsätzlich autonom und können entscheiden, wie sie mit höherer Leistungsforderung umgehen. Deshalb ist es oft auch schwierig, Druck zu erkennen.

Die Industrie ist inzwischen sensibilisiert. Die Lean-Bewegung hat Druck als Problem und Warteschlangen als Symptom erkannt. Toyota hat demonstriert, welchen Gewinn es bringt, von Druck auf Zug umzustellen.

Ansonsten aber… entweder macht man sich keine Gedanken oder man hält Druck für unvermeidbar oder man findet ihn sogar wünschenswert. Warum auch nicht? Druck kann doch auch sexy sein, oder?

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Nein, Druck ist nicht sexy. Bis zu einem gewissen Grad ist er natürlich, unvermeidbar und auch nicht schädlich, nein, sogar bekömmlich. Aber sorgloser Umgang mit Druck, Druck als Standardmittel zur Ergebniserzielung, das ist kontraproduktiv.

In Beispiel 2 entsteht Druck entweder durch die unausgesprochene Annahme, dass das Team nicht nur seine 4 User Stories erledigen, sondern auch noch das Dokument durcharbeiten wird. Oder er entsteht, weil das Team nicht glaubt, die Arbeit an den User Stories zugunsten des Dokumentes herunterfahren zu dürfen.

Ob die Zahl der Optionen tatsächlich eingeschränkt wird oder die leistende Ressource das nur so wahrnimmt, ist nicht ausgemacht und auch egal. Entscheidend ist das Gefühl von Druck.

Problematisch ist nun, wozu dieses Gefühl von Druck führt: zu Verformungen.

Menschliche Ressourcen verbiegen sich, um den höheren Anforderungen gerecht zu werden. Das wird auch als ganz normal angesehen. “Dienst nach Vorschrift” ist verpönt. Der ist nämlich Ausdruck von “Unverbiegbarkeit” [1].

Verformungen bei Menschen sind z.B.:

  • Überstunden, d.h. länger arbeiten
  • Erhöhung der Leistung, d.h. schneller arbeiten
  • Isolation, d.h. selbstbezogener arbeiten
  • Absenkung des Qualitätsanspruchs, d.h. weniger sorgfältig arbeiten

Diese Verformungen sind hoffähig oder gar erwünscht (z.B. Überstunden), teilweise sind sie aber auch nur schwer oder spät erkennbar (z.B. reduzierte Qualität). In jedem Fall führen sie auf Dauer zu Demotivation oder Schlimmerem [2]. Wer Druck sorglos einsetzt läuft Gefahr, Kosten durch eines der großen K´s zu erzeugen: Kündigung, Krankheit, Keine Lust, Kundenverlust.

Das mag dem Druckausübenden im Moment egal sein, so wie es einem upstream Produktionsschritt egal sein mag, vor einem downstream Schritt eine Halde zu erzeugen. Aufs Ganze gesehen ist es jedoch kontraproduktiv und teuer. Am Ende verdient eine Organisation ihr Geld ja nicht mit lokaler Optimierung, sondern als optimales Ganzes.

Lokale Optimierung hat immer einen begrenzten Horizont. Ihr Bezugspunkt sind daher vor allem Kosten. Ob lokal mehr Output wirklich zu einem besseren Ergebnis (Durchsatz, Ertrag) der gesamten Organisation führt, kann lokal nicht ermessen werden.

Und die Summe lokaler Optimierungen ist nicht automatisch ein optimales Ganzes.

Eine Maschine kann nur 4 Teile pro Minute verarbeiten, sie ist in dieser Hinsicht unverformbar. Also stauen sich Teile, die darüber hinaus angeliefert werden, vor der Maschine. Das ist das Ergebnis einer höheren Leistungsanforderung (6 statt 4 angelieferte Teile pro Minute) bei gleicher Optionenzahl (unveränderte Kapazität der Maschine).

Ein Team kann 4 User Stories pro Woche verarbeiten. Wenn eine weitere Leistungsanforderung auftritt, dann sind die Zahl der Optionen. Man darf nicht mehr soviele Fehler machen wie bei der ursprünglichen Planung einkalkuliert. Man darf nicht mehr soviel Freizeit haben, wie im Vertrag steht. Man darf sich die Zeit weniger frei einteilen, wie ursprünglich angenommen.

Das gilt umso mehr, je höher die ursprüngliche Auslastung war. Wenn 4 User Stories bedeutet hätten, das Team arbeitet jeden Tag nur 4 Stunden und spielt ansonsten am Kicker, dann würde das zusätzlich zu lesende Dokument keinen Druck erzeugen. (Klar, die Freiheit, sich zwischen Kicker und Arbeit zu entscheiden, würde abnehmen. Aber da Kicker spielen nicht der Zweck des Teams in der Organisation ist, halte ich das für vernachlässigbar ;-)

Teams, die nicht (nahezu) voll ausgelastet sind, kenne ich jedoch nicht. Deshalb erzeugen Änderungen an der geforderten Leistung oder gar Forderungen nach mehr Leistung unmittelbar Druck.

Das kann mit einer Autobahn verglichen werden. Wenn die nachts nur schwach befahren ist, kommt es durch zusätzlich auffahrende Fahrzeuge oder Unfälle kaum zu Behinderungen. Wenn die Autobahn in der Rush Hour jedoch ausgelastet ist, dann führt zusätzliche Last oder eine unerwartete Reduktion der Kapazität zu Staus oder sogar echten Autohalden bei Unfällen.

Druck ist allemal auf Dauer also nicht ökonomisch. Er ist lokal leicht zu erzeugen und führt lokal und kurzzeitig vielleicht auch zu einem Erfolg. Aufs Ganze gesehen jedoch ist Druck kontraproduktiv.

Endnoten

[1] “Dienst nach Vorschrift” ist natürlich kontraproduktiv. Da fehlen Respekt und Flexibilität. Beides ist nötig in Organisationen, weil es erstens um Menschen geht und zweitens sich menschliche Prozesse nicht optimal formalisieren lassen.

Dennoch finde ich es überlegenswert, inwiefern etwas mehr “Dienst nach Vorschrift” nicht auch heilsam für Organisationen sein kann. Denn dann kann es zu Haldenbildung wie in Industrieprozessen kommen. Damit gibt es dann sichtbare Ansatzpunkte für die Optimierung aufs Ganze hin.

[2] Menschen sind unterschiedlich belastbar. Wie stark sie sich verformen lassen oder können, wie schnell und weit sie anschließend auch wieder “back to normal” kommen… das ist ganz verschieden. In jedem Fall ist ihre Elastizität begrenzt. Bei ständigem Druck nimmt sie ab. Auch Menschen leiern sozusagen aus, werden schlaff – oder verhärten.


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